Anmerkung des Autors:
Die nachfolgende Geschichte ist Teil eines noch nicht vollendeten Romans. Einige Darstellungen sind reine Fiktion; einige andere jedoch entspringen realen Erlebnissen und Erfahrungen. Was Wahrheit oder was Fiktion ist, mag jeder selbst herausfinden. Manchmal hilft hier auch das Internet weiter. Die Geschichte gibt in wesentlichen Teilen meine Überzeugungen in Bezug auf “Gott und die Welt” wieder. Diese Überzeugungen unterfallen der Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes). Alle Namen, Personen und Orte der Handlung sind frei erfunden. Namen lebender oder verstorbener Personen der Zeitgeschichte und Figuren aus Filmen oder der Literatur, welche in der Handlung Erwähnung finden, sind hingegen bewusst aufgenommen. Etwaige Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen von Namen und Beschreibungen der Protagonisten mit denen lebender oder toter Personen wären rein zufällig.
Hinsichtlich der Begriffe Verus und Lux, mag man einstweilen zu einem Latein-Deutsch Wörterbuch greifen. Ein gut brauchbares Online-Wörterbuch findet sich hier.
© 2018 by Jens Vogler – jens.vogler at gmx.de
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VerusLux
Begegnung
Julia ließ sich in einen der bequemen, dunkelblauen Ledersessel in der Hotellobby fallen und stieß erleichtert die Luft aus. Beim Blick auf ihr Handy stellte sie fest, dass es sieben vor zehn war.
Gerade noch geschafft!
Nun war sie im Parkhotel in Marberg. Laut GoogleMaps lag das Hotel direkt am Ufer des Flusses Albers. Dort stand es inmitten jahrhundertealter, üppiger Bäume. Es war wegen seiner naturnahen Lage und seines schön restaurierten Jugendstils bei Geschäftsleuten und Erholungssuchenden sehr beliebt. Die Beschreibung im Internet schien eine Untertreibung zu sein. Es war ein wunderschönes Hotel.
Bei ihrer Anreise hatte es wieder mal genau den Stress gegeben, den sie überhaupt nicht mochte. Auf der Stadtautobahn hatte sich der Verkehr an einer Baustelle kurz vor der Abfahrt zur Zubringerstraße gestaut. Sie hasste es, sich zu verspäten. Die eigene Pünktlichkeit war so wichtig, damit ihre Interviewtermine auch wirklich zustande kamen. Unter ihren zahlreichen Interviewpartnern waren viele hochrangige, berühmte und manchmal auch völlig versnobte Zeitgenossen. Die durfte man auf keinen Fall warten lassen, denn das nahmen sie einem übel. Bei reinen Informanten war es ebenso wichtig, unbedingt rechtzeitig am vereinbarten Treffpunkt zu sein. Üblicherweise wollten diese Leute aus Angst vor einer Entdeckung meist keine Minute länger warten. Die mit einiger Mühe anberaumten Treffen waren zu kostbar, als dass sie durch eine leichtfertige Verspätung platzen durften.
Unbewusst zupfte sie ihr nachtblaues Kleid an der Taille zurecht. Sie holte ihren Schminkspiegel aus der Handtasche und begutachtete den Kajalstrich um ihre großen braunen Augen. Danach betrachtete sie den mit dezentrotem Lippenstift hervorgehobenen Mund. Ihr Blick schweifte zu ihrer kleinen spitzen Nase, die ihr – wie immer – nicht perfekt erschien. Wegen ihres Riechorgans wurde sie von ihren Freundinnen immer wieder mit Nicole Kidman verglichen. Diesen Vergleich mochte sie nicht. Zwar gab es gewisse Ähnlichkeiten mit der Hollywoodschauspielerin; jedoch hatte sie im Gegensatz zu ihr einen dunklen Teint und war brünett. Nun begutachtete sie den Sitz ihrer Frisur. Heute trug sie ihre kinnlangen Haare offen. Sie hatte sie extra für diese Begegnung mit einem Lockenstab in Form gebracht. Erleichtert stellte sie fest, dass noch alles so saß, wie es sitzen sollte. Sie war zufrieden … fast. Um die Augen waren erste Fältchen zu sehen. Aber was sollte sie machen? Sie war vierzig! Gegen das äußerliche Altern konnte man doch nichts ausrichten, außer man legte sich unters Messer oder ließ sich die Botoxspritze geben. Das aber kam für sie nicht in Frage. Gerade ihr authentisches Äußeres kam bei ihren männlichen Gegenübern gut an. Das bemerkte sie bei jeder dieser Begegnungen sehr schnell und diesen Vorteil nutzte sie auch ziemlich unverfroren aus. Dann war es noch ihr feines Gespür für die richtigen Fragen, das die Leute plaudern ließ und ihr damit den Erfolg guter Stories bescherte. Und genau diese Stories waren bereits vielfach Grundlage für Reportagen bei großen TV-Sendern oder von zahlreiche Artikeln in bedeutenden Printmedien geworden.
Der Mann, mit dem sie sich heute traf, war anders als alle Personen, die sie bisher interviewt hatte. Er war weder ein VIP noch einer dieser Follower-süchtigen Selbstdarsteller aus Facebook, Instagram oder Youtube. Sie war eher zufällig im Internet auf ihn gestoßen als sie Nachforschungen zum Thema Spontanheilungen angestellt hatte. In den sozialen Medien und im Mainstream war er merkwürdigerweise noch nicht aufgetaucht. Sicher würde aber genau das bald passieren, wenn sich die Lobgesänge der Besucher seiner Veranstaltungen im Forum seiner Homepage weiter so häuften und die ersten Sensationsreporter Wind von seinen Fähigkeiten bekamen. Die Schilderungen über die Ereignisse bei seinen Seminaren die sie gelesen und die Videos, die sie gesehen hatte, waren so verblüffend und ergreifend, dass man eigentlich sofort an einen Fake dachte. Jedoch waren die von ihr überprüften Berichte von geheilten Personen authentisch. Sie hatte die Namen betroffener Patienten recherchiert, Krankenberichte gelesen und Ärzte interviewt, die sich die wundersamen Heilerfolge nicht erklären konnten.
Noch in diese Gedanken versunken, nahm sie eher beiläufig wahr, dass jemand an ihren Platz herangetreten war. Sie drehte ihren Kopf und sah einen Mann, der sie aufmerksam betrachtete ohne sie jedoch anzusprechen.
Verflixt er ist es!
Da waren sie, diese blauen Augen, die sie bereits auf Fotos im Internet gesehen hatte. Sie tendierten ein wenig ins Graue und waren ungewöhnlich intensiv. Leicht ergraute, kurze dunkelblonde Haare umrahmten sein schmales Gesicht, das fast noch ein wenig jungenhaft wirkte. Er war schlank, mittelgroß und sah nicht annähernd wie ein Mann über fünfzig aus. Wie auf den zahlreichen Fotos im Internet war er leger gekleidet, trug die typischen Bluejeans und ein kurzärmliges weißes Hemd. An den nackten Füßen trug er Pantoletten. Das war anders.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie noch ihren Schminkspiegel in der Hand hielt. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Schnell riss sie ihre Handtasche auf, warf den Spiegel hinein, stand auf und wandte sich ihm zu.
Lächelnd streckte er ihr die Hand entgegen, wobei deren Haltung etwas skurril wirkte. Die Handinnenfläche war flach nach oben gerichtet, als ob er etwas Kostbares auf ihr hielte. Die Geste erschien ihr wie eine Einladung. Dann sagte er: „Guten Morgen Frau Sommer! Ich freue mich, Sie kennen zu lernen!“
Seine Stimme war kräftig und er sprach ohne Akzent.
Sie ergriff die angebotene Hand und spürte unvermittelt ein starkes Kribbeln auf der Haut. Überrascht weiteten sich ihre Augen. Unversehens ließ sie seine Hand wieder los. Sofort war das Kribbeln verschwunden. Um ihrer darauf beruhenden Irritation entgegenzuwirken, sagte sie schnell: „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Herr Reichenbach!“,
„Nennen Sie mich Stephan! Ich bin es nicht mehr gewohnt, so förmlich angesprochen zu werden!“
„Okay, aber nur, wenn sie Julia zu mir sagen!“
„Sehr gern!“
Seine Stimme war leiser, sein Lächeln breiter geworden.
„Ich weiß, ich bin etwas zu früh, aber ich wollte sie nicht länger warten lassen!“, sagte er mit entschuldigendem Unterton.
Durch diese Bemerkung überrascht, dachte sie: Hast du mich etwa schon die ganze Zeit beobachtet?
Kaum merklich zog er eine Augenbraue hoch und sagte: „Für das heimliche Beobachten von Menschen ist mir meine Zeit zu kostbar! Ich komme gerade von draußen und habe ihr Auto auf dem Parkplatz stehen sehen. Es war der einzige Wagen aus Königsthal konnte also nur ihrer sein. Deshalb wusste ich, dass sie angekommen sind.“
Okay, das ist `ne Erklärung!, dachte Julia. Dann jedoch stutzte sie und runzelte die Stirn. Er hatte gerade eine Antwort auf eine Frage gegeben, die sie gar nicht gestellt hatte!
Prompt platzte es aus ihr heraus: „Wie machen Sie das?“
Ihre Verblüffung war so offensichtlich, dass er zu lachen begann. „Verzeihen Sie mir! Es war nicht meine Absicht!“
Seine Entschuldigung klang ehrlich; sein Lachen strafte ihn Lügen.
„Ich glaube, Sie schwindeln mich gerade an. Ich habe nämlich den Eindruck, dass sie das wohl kaum abschalten können!“, sagte sie mit einem schiefen Lächeln.
„Sehr gut erkannt! Ich sehe, wir verstehen uns!“
Achselzuckend erwiderte sie: „Was soll`s? Mit so etwas hätte ich wohl rechnen müssen. Aber gut … kommen wir zum eigentlichen Grund meines Besuchs. Wo können wir uns ungestört unterhalten?“
Stephan hielt kurz inne, schien zu überlegen. Dann sagte er: „Wir können nachher gerne in meine Suite gehen. Vorher jedoch wollte ich mit Ihnen zusammen ein kleines Experiment wagen.“
Staunend fragte sie: „Wie bitte? Ein Experiment mit mir?!“
„Keine Angst. Wir gehen nur in den Park hinter dem Hotel. Damit Sie mich besser verstehen können, möchte ich Ihnen die Gelegenheit geben, die Welt ein klein wenig mit meinen Augen zu sehen. Ich glaube, es wird Ihnen gefallen. Vertrauen Sie mir einfach Julia!“
Sie warf ihm einen Blick zu, der ihm verriet, dass sich in ihrem Inneren Neugierde und Unschlüssigkeit gerade ein Duell lieferten. Dann jedoch nickte sie. „Na da bin ich ja mal gespannt!“
***
Als sie den Hotelpark erreichten, staunte Julia über das ausgedehntes Refugium mit seinen weiten Wiesen, breiten Wegen und zahlreichen alten großen Eichen, Buchen, Kastanien, Eschen und vielen weiteren Baumarten. Die bereits kräftige Maisonne stand hoch am Himmel und bescherte den vereinzelt anzutreffenden Besuchern des Parks eine angenehm laue Temperatur. Da wo der Schatten der im vollen Saft stehenden Laubbäume nicht hinfiel, konnte man leicht ins Schwitzen kommen. Ein leichter Windzug kaschierte die zur Mittagszeit wachsende Intensität der Sonnenstrahlung. Eine Sinfonie von Vogelstimmen erfüllte den Park, die von einem nahen Trommeln begleitet wurde, das von einem Specht herrührte, der energisch und unaufhörlich einen Baum traktierte. Einige Mauersegler jagten mit schrillen Schreien im Tiefflug an ihnen vorbei und vollführten dabei die erstaunlichsten Flugmanöver.
Sie waren noch nicht weit gelaufen, als Stephan plötzlich stehen blieb, die Arme hob und sie weit ausbreitete. „Wie gefällt es ihnen?“
„Ein herrlicher Ort! Aber wir sind doch sicher nicht hier, um nur Spazieren zu gehen und den Vögeln zu lauschen?“
Statt einer Antwort justierte er sie mit einem durchdringenden Blick. Irritiert kniff sie die Augen zusammen. Was soll das denn jetzt?
Den Blick weiterhin auf sie geheftet, fragte er: „Was sehen Sie, Julia?“
Diese Frage veranlasste sie dazu, sich die Umgebung eingehender anzuschauen. Dann sagte sie: „Einen Park mit alten Bäumen, dichten Sträuchern, grünen Wiesen, Vögel, Insekten, einige Leute die ein Sonnenbad nehmen … Aber das ist es doch nicht, was Sie von mir hören wollen … oder?“
Er schüttelte den Kopf. „Es kommt nicht darauf an, was ich von Ihnen hören will, sondern auf das, was Sie mit diesem Ort verbinden. Eine Antwort, die aus ihrem Bauch kommen sollte und nicht aus ihrem Kopf. Aber das ist völlig in Ordnung so. Ich werde Ihnen diese Frage nachher noch einmal stellen!“
Obwohl sie seine Antwort als belehrend empfand, wollte sie doch den tieferen Sinn dieser Aussage erfahren. Daher unterdrückte sie ihre Verärgerung über diese Zurechtweisung.
„Okay … und was kommt jetzt?“, fragte sie und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
„Suchen Sie sich einen Baum aus!“, sagte er und deutete auf eine Gruppe von Eschen und Ahornbäumen, die sich ungefähr fünfzig Meter von ihnen entfernt befand.
Julia riss die Augen auf. „Wie bitte?!“
„Suchen Sie sich einen Baum aus! Irgendeinen Baum, der Ihnen auffällt, der Ihnen zusagt. Es muss keiner von denen sein …“, sagte er und zeigte nochmals auf die Baumgruppe, „ … es kann auch einer auf der anderen Seite des Parks sein … es ist egal welcher, Hauptsache sie entscheiden sich für einen!“
Julia war perplex. Es war ihr völlig schleierhaft, was das Ganze sollte, aber sie wollte unbedingt wissen, was es mit diesem Experiment auf sich hatte. „Nun gut … ich denke ich nehme einen von denen da!“, sagte sie und deutete auf eine Baumreihe, die auf der gegenüberliegenden Seite der Wiese stand.
***
„Der hier sagt mir zu!“, sagte Julia und schritt auf einen großen Ahorn zu.
Der Baum hatte einen mächtigen Stamm und eine breite Krone, deren Äste sich nach allen Seiten gleichmäßig ausbreiteten. Seine grünen Blätter hatten sich in voller Größe entfaltet, so dass durch sein dichtes Laubwerk kaum ein Sonnenstrahl drang.
„Gute Wahl!“ sagte Stephan und blieb außerhalb des Bauschattens stehen.
„Und nun?“, fragte Julia, die sich zu Stephan umdrehte, weil sie bemerkt hatte, dass er nicht mehr näher kam.
„Es ist Ihr Baum! Gehen Sie zu ihm! Lehnen Sie sich mit dem Rücken gegen den Stamm, legen sie Ihre Hände darauf und schließen Sie die Augen. Es wäre sehr gut, wenn Sie vorher die Schuhe ausziehen!“
Julia runzelte die Stirn. „Warum das denn?“
„Das erkläre ich Ihnen später!“
Diese Antwort befriedigte sie zwar nicht, aber nun war sie aber erst recht neugierig geworden.
„Und warum kommen Sie nicht mit mir?“
Mit einem wissenden Lächeln antwortet er: „Weil ich mit meinen Energien Ihre Kommunikation mit diesem wunderbaren Vertreter der Natur stören würde! Wie gesagt, es ist Ihr Baum!“
Kommunikation mit einem Baum? Oh Gott, worauf habe ich mich da nur eingelassen? Aber solange ich mich nicht völlig nackt ausziehen muss ist das alles noch im Lot!, dachte Julia und zog sich ihre Pumps von den Füßen.
„Sehr schön!“, sagte Stephan und wies auf den Stamm des Ahorns. „Es ist Ihrer!“
Das frische Gras unter ihren Füßen war dicht gewachsen. Als sie zum Stamm des Baumes schritt, überlegte sie, wie lange sie nicht mehr barfuß über eine Wiese gelaufen war. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Es musste eine Ewigkeit her sein. Irgendwie war es ein schönes Gefühl.
Als sie den Fuß des Baumes erreichte, bemerkte sie dessen breite Wurzeln, die sich aus dem Gras herauswölbten. Sie legte ihre Schuhe ab, drehte sich mit dem Rücken zum Stamm, postierte ihre Füße zwischen zwei Wurzelstränge und verlagerte ihr Gewicht nach hinten. Nun lehnte sie mit dem Rücken am Baum. Dann legte sie die Hände auf den Stamm und schloss die Augen.
Was soll jetzt kommen?
„Versuchen Sie Ihre Gedanken frei zu halten! Seien Sie offen und lassen Sie es fließen!“, hörte sie Stephan rufen.
Seien Sie offen und lassen Sie es fließen?! Ich habe keinen Schimmer, was er damit meint! Und überhaupt: Was mögen die Leute denken, die hier vorbeikommen? Gott sei dank, kennt mich hier niemand!
„Julia, Sie denken noch zu viel! Lassen Sie alle Vorbehalte los. Lauschen Sie einfach dem Klang der Natur!“
Blitzartig wurde ihr wieder bewusst, dass er offensichtlich ihre Gedanken lesen konnte und sie fühlte, wie ihr wieder die Röte ins Gesicht schoss.
„Okay, ich werde mich bemühen! Aber bitte hören Sie auf, in meinen Kopf einzudringen! Das macht mich nervös!“
Als Julia keine Antwort vernahm, blinzelte sie und stellte erstaunt fest, dass Stephan verschwunden war. Suchend schaute sie sich um. Irgendetwas brachte sie dazu, ihren Kopf zur Seite zu drehen. Als sie ihn entdeckte, riss sie die Augen auf. Er stand in einiger Entfernung an einen mächtigen Baum gelehnt, hielt die Augen geschlossen und hatte ein Lächeln auf dem Gesicht. Die Entfernung zwischen ihrem Ahorn und seinem Baum musste dutzende Meter betragen. Wie hatte er das gemacht? Eben war er doch noch direkt vor ihr gewesen!
Dieser Stephan Reichenbach ist doch ein Buch mit sieben Siegeln!
Eine Stimme in ihrem Kopf unterbrach ihren Gedankenfluss.
Julia, konzentrier dich auf dich selbst!
Sie schrak zusammen! Deutlich hatte sie diese Worte in ihrem Kopf vernommen! Seine Stimme?
Grundgütiger, war er das jetzt wirklich oder werde ich langsam verrückt?
Sie horchte in sich hinein. Stille. Erleichtert stieß sie die Luft aus und schloss die Augen. War wohl nur Einbildung! Nun gut, dann will ich mich mal konzentrieren und darauf lauschen, was mir der Baum zu sagen hat! Irgendwie abgefahren, das Ganze! Aber was macht man nicht alles, um an ein Interview zu kommen!
Julia konzentrierte sich nun und versuchte, ihre Gedanken loszulassen. Sie lauschte dem Rauschen der Blätter und den Vogelgesängen. Aus dem Pfeifen und Zwitschern stach das laute Trommeln des Spechts hervor, das sie vorhin schon wahrgenommen hatte. Nun aber nahm sie diese Naturgeräusche bewusster wahr. Irgendwie war es schön.
Nun Ahornbaum, was hast du mir zu sagen?
Sie glaubte nicht, dass irgendetwas passieren würde, außer dass sie mit ihren Fingern die Rinde des Baumes ertastete und ihre nackten Füßen im Gras standen. Langsam lullte sie die Atmosphäre ein und es machte ihr gar nichts mehr aus, dass sie vielleicht von vorbeikommenden Leuten beobachtet wurde. Ihre Gedanken drifteten ab und sie sah sich wieder als das kleine Mädchen, das lachend über eine Wiese lief und für ihre Mutter Gänseblümchen pflückte oder einem Schmetterling nachjagte. Es war wie ein Tagtraum, wunderbar entspannend. Plötzlich begann es an ihren Fingerkuppen zu kribbeln. Dann zog sich das Kribbeln langsam von ihren Armen über ihren Oberkörper und ihren Unterleib in die Beine. Es wurde immer stärker und war durchaus angenehm. Sie ließ es geschehen. Eine innere Wärme stieg in ihr auf und sie war fasziniert davon. Dann begann der Boden unter ihren Füßen zu schwanken. Es war ein wenig so, als würde sie auf dem Deck eines Schiffes stehen.
Wow!
Sie fühlte, wie eine Art Energie durch ihren Körper floss und immer kraftvoller wurde. Ein geradezu euphorisches Gefühl erfasste sie.
Unglaublich! Das also meinte er mit `Energie des Baumes`!
„Ich glaube, Sie haben Ihren Baum gefunden! Ausgezeichnet!“
Julia riss die Augen auf und sah Stephan wieder vor sich stehen. Er stand weider etwas abseits vom Baum außerhalb des Kronenbereiches, offenbar darauf bedacht, ihr nicht zu nahe zu kommen.
Julias verblüfftes Gesicht brachte Stephan zum Schmunzeln.
„Lassen Sie sich Zeit und genießen Sie die Kraft des Baumes!“, sagte er.
„Ist schon okay, ich glaube, es reicht fürs Erste! Ich weiß jetzt, was Sie mit damit meinten, ich solle es fließen lassen! Ein wirklich wunderbares Gefühl, ich bin echt überrascht!“
Julia drückte sich vom Stamm des Ahorns ab und verlagerte ihr Gewicht wieder auf die Füße. Dann hob sie ihre Pumps auf und stapfte auf Stephan zu.
Er grinste sie mit dieser fast schelmischen Verschmitztheit an, die ihr sagte, dass das noch nicht alles war. „Nicht schlecht für den Anfang! Sie waren da jetzt eine glatte halbe Stunde energetisch mit dem Ahorn verbunden. Er muss Sie wirklich mögen!“
Dies vernehmend klappte ihr Unterkiefer herunter. Verdattert schaute sie auf ihre Armbanduhr. „Tatsächlich! Das ist ja nicht zu fassen! Mir kam das nur wie zehn Minuten vor!“
„Das ist immer so, wenn man es fließen lässt. Die Zeit vergeht viel schneller! Es ist der Lebenstakt des Baumes, der dein eigenes Zeitgefühl beeinflusst!“, erwiderte Stephan.
Julia zog an ihrem Kleid um es wieder in Form zu bringen, dann schaute sie verstohlen auf ihren Hintern.
Stephan folgte ihrem Blick und musterte ihr Kleid. „Alles ist perfekt Julia. Der Ahorn hat Sie wirklich in sein Herz geschlossen, sonst wäre Ihr Kleid jetzt mit seinem Harz getränkt.“
Julia kniff die Augen zusammen und fixierte ihn mit scharfem Blick. „Oh … schön, dass ich das jetzt schon erfahre!“
Stephans Mundwinkel zuckten fast unmerklich. „Ich wusste, dass Sie den richtigen Baum gewählt hatten, sonst hätte ich Ihnen einen Tipp gegeben! Hätten Sie etwa eine Trauerweide gewählt, dann hätte ich Ihnen geraten, sie nur mit den Händen zu berühren und sich auf keinen Fall anzulehnen. Sie hätten dann sehr schnell gemerkt, dass die Trauerweide ein sehr melancholischer Baum ist. Und sie hätte sich sehr gefreut, von Ihrer Energie zu nehmen.“
Julia riss die Augen auf! „Dann kann das zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen, wenn man sich energetisch mit einem Baum verbindet? Es kommt also darauf an, welche Baumart man wählt?!“
„Genau! Es gibt Bäume, die dem weiblichen Aspekt stärker zugeneigt sind. Wenn sich also zum Beispiel ein Mann an einer Blutbuche anlehnt, wird er sehr schnell merken, dass sie ihn ablehnt. Er wird sich merkwürdig fühlen und bemerken, dass der Baum ihn irgendwie Kraft kostet. Dann gibt es wiederum Bäume, die ihre Zuneigung dem männlichen Aspekt geben. Zu denen gehören unter anderem die Eichen und Kastanien. Der Ahorn ist da eher ein neutraler Baum, der beide Aspekte gleichermaßen mag! Das alles ist aber nur eine Orientierungsregel, denn es gibt auch weibliche Bäume, die einen Mann mögen können, genau wie männliche eine Frau. Jeder sollte also selbst herausfinden, welcher Baum zu ihm gehört!“
Julia schaute ihn mit ihren braunen Augen an, die nun irgendwie zu leuchten schienen. „Erstaunlich! Hätte ich das eben nicht gerade selbst erlebt, dann hätte ich gedacht: Was erzählt er dir da für einen Unsinn! Aber so sehe ich nun Bäume mit ganz anderen Augen. Ich habe jetzt richtig Respekt vor ihnen!“
„Sehr schön! Genau das hatte ich gehofft! Nun …“ Stephan hielt inne und schaute sie prüfend an.
„Ja?!“, fragte sie, seinen Ansatz aufgreifend.
„ … kommen wir zum eigentlichen Experiment.“
Erstaunt zog sie eine Augenbraue hoch. „Was?! Das war es noch gar nicht?!“
Stephan schüttelte den Kopf. „Sind Sie bereit?“, fragte er.
„Bereit wofür?“
„Die Welt mit anderen Augen zu sehen! Wenn Sie über mich schreiben wollen, dann nur, wenn Sie es einmal gesehen haben!“
Julia versuchte zu ergründen, was er damit meinen könnte. Sie grübelte und vergaß einen Moment, dass er sie geradezu geduldig fixierte. „Okay! Dann lassen Sie uns anfangen.“, sagte sie schließlich, aber in ihren Worten lag ein Zögern.
„Sehr gut! Dann stellen Sie sich bitte hierher.“, sagte Stephan und bedeutete Julia, sich ihm gegenüber zu postieren.
Erwartungsvoll nahm sie die ihr zugewiesene Position ein und schaute ihn an.
Er streckte ihr die Hände entgegen. „Kommen Sie, wir müssen uns an den Händen halten!“
Überrascht von dieser neuerlichen Ungehemmtheit zögerte sie einen Augenblick, ergriff seine Hände dann aber doch.
Ihre Unsicherheit bemerkend, lächelte er sie aufmunternd an.
„Und jetzt … schließen Sie bitte Ihre Augen!“, flüsterte er so leise, dass sie es gerade noch verstehen konnte.
Julia folgte seiner Anweisung. Kaum hatte sie die Augen geschlossen, da spürte sie einen starken Impuls, der ihren Körper durchzog. Es fühlte sich wie ein warmes Strömen an, dass sich von ihren Händen, über ihre Arme, ihren Körper zu den Beinen und über ihren Hals zu ihrem Kopf zog. Begleitet wurde es von einem Kribbeln, wie von einer Unzahl von Ameisen, die über ihren Körper liefen. Ihr Geist drang in eine neue Welt ein. Eine Flut von Empfindungen überzog sie. Zunächst sah sie ein Leuchten in allen Regenbogenfarben, dann ein Licht, blendend hell, das vor ihrer Stirn aufblitzte. Plötzlich spürte sie eine nie gekannte Kraft in sich aufsteigen, die von jeder Faser ihres Körpers Besitz ergriff.
Dann hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf. Und jetzt … öffne deine Augen!
Ohne darüber näher nachzudenken, folgte sie jener Anweisung. Was sie nun sah und zugleich fühlte, ließ ihren Atem stocken.
Oh mein Gott!
Die Sicht der Dinge
Julia schien es fast, als hätte sie keinen Körper mehr. Aber doch nicht ganz, denn da waren noch ihre Hände, die in den Händen von Stephan lagen, und ihre Füße, mit denen sie im Gras stand. Sie betrachtete ihren Ahornbaum und sah, wie dessen Zweige in einem diffusen Lichtschein flimmerten. Und wie der Wind durch den Baum strich, war sie auf einmal der Baum. Sie konnte ihn fühlen, so wie ihr Gesicht, ihre Augen, ihre Haut. Ihr Blick schweifte weiter und sie nahm nun bewusst wahr, dass alles um sie herum in dieses merkwürdige Flimmern gehüllt war. Der ganze Park schien in diesem weißen Licht zu glühen. Es war wie eine euphorische Ekstase, die alles Leben geradezu umspülte und es drang tiefer und tiefer in ihr Bewusstsein ein. Plötzlich fühlte sie sich mit allem verbunden. Sie war der Baum, sie war das Gras, sie war der Käfer, der an einem der Halme entlang krabbelte, sie war die Amsel, die vor ihr über das Gras hüpfte. Es war dieses enorme, alles erfassende Bewusstsein, dass sie geradezu in ekstatische Verzückung versetzte. Eine nie gekannte Euphorie ergriff sie. Sie brach in Gelächter aus und gleichzeitig liefen ihr Tränen aus den Augen.
Und plötzlich konnte sie einen alles durchdringenden Klang hören. Sie konnte jeden Grashalm, jeden Baum, jeden Strauch hören. Jede Pflanze, jeder Stein, jedes Insekt hatte seinen eigenen Ton. Der Klang war sehr leise aber trotzdem klar in diesem Bewusstsein. Die verschieden schwingenden Töne aller Lebewesen vermengten sich zu einer gleichmäßigen Symphonie.
Julia sah hoch zur Sonne und war voller Ehrfurcht.
Oh mein Gott, ich kann die Sonne hören!
Dieser Klang der Sonne war atemberaubend, gleichzeitig hochfrequent und tief, fügte sich aber harmonisch in die Natursymphonie des Lebens im Park. Als sie so lauschte und schaute und ihre Sinne von diesen unfassbaren Eindrücken geflutet wurden, fühlte es sich für sie an, als ob sie aus reinem Bewusstsein bestünde. Sie war nicht mehr länger nur Körper, sie war pure Energie.
Am Himmel erspähte sie einen Bussard und im gleichen Moment war ihr Geist da oben. Sie fühlte sich vollkommen frei und sah einen Mann und eine Frau die sich bei den Händen hielten, tief unten im Park stehen. Abrupt wechselte wieder ihre Perspektive und sie war wieder auf der Wiese zwischen den alten Bäumen. Wieder und wieder lachte sie vor lauter Glücksseeligkeit und gleichzeitig rannen ihr die Tränen über die Wangen.
Unvermittelt bemerkte sie, dass Stephan sie anschaute. Sein unbeirrter Blick sagte ihr, dass er genau wusste, was sie empfand.
Dann hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Was siehst du?
Nun aber wusste sie genau, dass er es war, der diese Frage gestellt hatte und sie sich das keineswegs einbildete.
Als ob es die normalste Sache von der Welt sei, antwortete sie in ihrem Geist. Ich sehe pure Energie, ich höre den Klang des Universums und ich bin mit allem verbunden!
Sein promptes Lächeln zeigte ihr, dass er ihre Antwort empfangen hatte und dass es die Art von Antwort war, die er offenbar erwartet hatte.
Wieder vernahm sie seine Stimme in ihrem Kopf. Das ist wunderbar! Nun aber müssen wir es beenden, denn es wird sonst zu viel für dich! Dein Körper kann so mannigfaltige neue Erfahrungen noch nicht so lange verkraften!
Nein!, dachte sie und es war ein Gedanke wie ein Protest.
Doch er ließ er ihre Hände los.
Langsam schwanden ihre Empfindungen. Das Leuchten der Bäume verblasste, das Gras wurde wieder sattgrün und sie spürte nur noch ganz sich selbst. Da auch das ekstatische Hochgefühl langsam nachließ, bis es nur noch eine Erinnerung war, überkam sie eine gewisse Traurigkeit und sie fühlte sich irgendwie isoliert, geradezu eingeengt in ihrem Körper.
Noch immer lag Stephans Blick auf ihr.
Als sie ihn fragend anschaute und dazu ansetzen wollte, zu sprechen, legte er einen Finger auf seine Lippen. In ihrem Geist hörte sie ihn sagen: Nicht sprechen! Lass es langsam ausklingen! Ich schlage vor, dass wir jetzt ins Hotel gehen und ich dir dort all deine Fragen beantworte, die dir gerade auf dem Herzen liegen. Okay?!
Da er ihr bedeutet hatte, nicht zu reden, nickte sie nur kurz.
Stephan zog ein Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte ihr damit vorsichtig die Tränen von den Wangen. Sie ließ es geschehen und war dankbar dafür.
***
Stephans Juniorsuite war funktionell eingerichtet und optisch in einen Schlaf- und Wohnbereich getrennt. Dank variantenreicher Dachschrägen und Gaubenfenster war sie ein wenig verwinkelt. Dadurch erschien es Julia aber auch irgendwie gemütlich. Der lichtblaue Teppich, der den farblichen Hauptakzent in der Suite setzte, stand in einem starken Kontrast zu der roten Polstergarnitur und den Mahagonimöbeln, die im klassischen Stil gefertigt waren.
Sie saßen in der Couchecke, die sich hinter zwei restaurierten alten Stützbalken unter einer Dachschräge befand. Julia hatte es sich auf einem der Polstersessel bequem gemacht. Stephan saß auf dem Sessel gegenüber und beobachtete, wie sie aus ihrer Handtasche ein kleines Diktiergerät hervorholte und es auf dem kleinen Couchtisch vor sich ablegte.
Als sie damit fertig war, blickte Julia auf und sah ihn fragend an: „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich das Interview mitschneide?“
Stephan schüttelte den Kopf und sagte: „Ach iwo! Ich weiß die Nützlichkeit dieser kleinen Dinger zu schätzen, habe ich doch selbst jahrelang Schriftsätze damit diktiert, als ich noch als Anwalt gearbeitet habe. Ich habe immer noch so ein Gerät, benutze es aber nur noch, um meine Gedanken festzuhalten. Eine durchaus zweckmäßige Methode!“
Julia beugte sich vor und betätigte den Aufnahmeknopf am Diktiergerät. „Sie waren Jurist? Das ist interessant! Wie wird man vom Rechtsanwalt zum …?“, sie hielt kurz inne, „ … ich weiß jetzt gar nicht wie ich Ihren jetzigen Beruf nennen soll!“
„Es ist eher eine Berufung als ein Beruf. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich bin ein Lichtbringer!“
Julia sah ihn verblüfft an. „Was meinen Sie damit?“
Für einen Moment fixierte Stephan sie in einer Art, als wolle er ergründen, ob er ihr ein Geheimnis verraten könne, dann sagte er: „Viele missverstehen es oder sind gar nicht in der Lage, es zu verstehen. Manche verbinden den Begriff Lichtbringer mit Luzifer, dem Teufel und Herrn der Hölle was aber im Kontext der Realität völlig falsch ist. Der sagenumwobene gefallene Engel hat mit dem Lichtbringen nichts zu tun. Luzifer und die Hölle, wie wir sie uns vorstellen, sind auch nur eine Erfindung der Kleriker. Lichtbringen ist etwas völlig anderes. Sie konnten es vorhin selbst erleben. Daher war es ganz wichtig, dass bei meinem kleinen Experiment mitgemacht haben!“
Gerührt erwiederte Julia: „Danke, dass Sie mir die Möglichkeit gaben, diese ganz außergewöhnliche Erfahrung zu machen! Es war einfach unbeschreiblich! Ich bin noch immer ganz überwältigt von den Eindrücken!“
„Sie waren vorhin eine kurze Zeit offen! Sie haben das Licht gesehen und Ihnen dürfte jetzt bewusst sein, dass die Welt viel umfassender ist, als sie die meisten Menschen mit ihren fünf Sinnen wahrnehmen. Ein Lichtbringer hilft den Menschen, ihr Bewusstsein zu öffnen um zu erkennen, dass sie keine isolierten Individuen sind. Das ist der eigentliche Kern der Tätigkeit eines Lichtbringers! Wir Menschen sind hoch energetische, spirituelle Wesen und auf der tiefsten Ebene, der subnuklearen Ebene, mit Allem verbunden. Nur sind sich die meisten Menschen darüber gar nicht bewusst!“
„Ja! Ich weiß genau was Sie meinen! Als Sie mich vorhin an den Händen hielten und ich dieses phänomenale Glühen bei den Pflanzen und Tieren im Park bemerkte, da war ich auf einmal der Ahornbaum und ich war der Grashalm und der Käfer, der an ihm herunterkrabbelte und ich war der Bussard der am Himmel schwebte und ich sah mich mit seinen Augen von oben“, sagte Julia und in ihren Augen erschien ein Leuchten von der Art, wie es sich bei Kindern zeigt, wenn sie ihr Weihnachtsgeschenk auspacken, und feststellen, dass der Inhalt genau ihrem Wunsch entspricht.
Stephan erwiderte ihre Begeisterung mit einem Leuchten in den Augen. „Das Glühen vorhin waren Biophotonen!“
Fragend zog sie eine Braue hoch. „Biophotonen?!“
„Ja! Biophotonen sind Lichtpartikel die von allen Lebewesen ausgestrahlt werden. Biophotonen übertragen Informationen. Für gewöhnlich werden sie aber vom Menschen nicht wahrgenommen, weil er sich für diese Informationen gar nicht geöffnet hat. Wenn sich aber ein Mensch in einen Zustand erweiterten Bewusstseins begibt, das in der Regel erst durch eine lange Meditationspraxis erreicht werden kann, dann ist er in der Lage, diese Informationen zu empfangen. Dann endlich spürt er die all umfassende Vollkommenheit aller Lebewesen auf dieser Welt und seine Ängste und Zweifel lösen sich langsam in Liebe auf. So kann man auch sagen, dass Biophotonen unsere Liebe und unsere Gefühle übertragen können! Wie Sie sich vielleicht denken können, ist die Tatsache, dass Biophotonen Informationen übertragen können, bei den Wissenschaftlern stark umstritten. Der Mann, der die Existenz der Biophotonen im Jahre 1975 experimentell nachwies, heißt Fritz Albert Popp und ist Biophysiker. Er wird von den meisten seiner Kollegen trotz dieser großartigen Entdeckung geschnitten, weil er den Begriff der Information in die Molekularbiologie einführte und damit die etablierte Auffassung der Biochemie auf den Kopf stellte. Nach der so genannten naturwissenschaftlichen Sicht herrscht in Zellen völlige Planlosigkeit. Der Organismus von Lebewesen wird als wimmelndes Chaos von Molekülen betrachtet, in dem der Zufall entscheidet, ob, wann und wo chemische Reaktionen stattfinden. Wie Popp halte ich diese Sichtweise für falsch. Aus einem planlosen Chaos kann kein sinnvolles Zellgeschehen entstehen. Popp hat durch seine Experimente bewiesen, dass sich das Licht in unseren Zellen keineswegs chaotisch und zufallsbedingt verhält, sondern einen erstaunlichen Zusammenhang aufweist. Er sagt klar und deutlich, dass über Biophotonen die Zellen im Organismus miteinander kommunizieren. Wie Sie vorhin wohl selbst erlebt haben, hat Popp offenbar Recht!“
Julia staunte. „Wow! Dass Sie dieses Glühen sogar wissenschaftlich erklären können, damit hätte ich jetzt nicht gerechnet! Ich dachte immer, solche Phänomene ließen sich aus der Sicht der Wissenschaft nicht definieren. Schließlich war es mein ganz persönliches Erlebnis und die meisten Leute würden es damit erklären, dass sich das alles nur in meinem Gehirn abspielt. Sie würden behaupten, es wäre ein Halluzination gewesen oder sie würden fragen, ob ich unter Drogen stand!“
„Das wäre eine typische Reaktion, da haben Sie völlig Recht. Wie bereits gesagt, ist das Thema Informationsaustausch bei Zellen unter den Wissenschaftlern sehr umstritten ebenso wie die Frage, ob außerhalb des menschlichen Gehirns überhaupt Bewusstsein existiert. Aus spiritueller Sicht ist diese Frage ganz klar mit einem ‚Ja’ zu beantworten. Ich selbst bin da auch völlig zweifelsfrei. Aber viele Menschen glauben nicht an ein höheres Bewusstsein und an Spiritualität. Sie verharren in materiellen Glaubensdoktrin und betrachten alles rein wissenschaftlich. Wissenschaft und Spiritualität wurden durch die eingeschränkte Betrachtungsweise der Menschen zu gegensätzlichen Polen. Das war nicht immer so. Erst seit den Entdeckungen in der Quantenmechanik fangen mehr und mehr Wissenschaftler an, sich für neue Sichtweisen zu öffnen, die auch spirituelle Erfahrungen und so genannte Phänomene beinhalten und diese sogar erklären können. Daher stellt sich hier die Frage: Was ist eigentlich real? Etwa nur das, was wir mit unseren fünf Sinnen, bisweilen auch mit Hilfsmitteln wie Mikroskopen, wahrnehmen und die Wissenschaftler in Experimenten beweisen können? Oder ist das real, was gegeben ist, unabhängig davon ob wir uns darüber bewusst sind oder nicht? Würde man der Annahme folgen, dass nur die gegebenen Erkenntnisse der heutigen Wissenschaft unser Wissen schafft … ein Wortspiel mit einem tieferen Sinn …“, Stephan hielt kurz inne und blickte sie vielsagend an, „ … dann wären wir noch immer bei einem Wissensstand von längst vergangenen Zeiten. Man hat die Dinge früher in vielerlei Hinsicht völlig anders gesehen als heute, obwohl sie objektiv betrachtet existierten, wenn auch nicht im Bewusstsein der Menschen. Ich möchte da ein Beispiel nennen. Im Mittelalter hätte man für die Behauptung, es gäbe noch kleinere Organismen, als solche, die mit dem bloßen menschlichen Auge sichtbar sind, nur ein verständnisloses Kopfschütteln geerntet oder wäre gar auf dem Scheiterhaufen gelandet. Damals existierten im Bewusstsein der Menschen keine Bakterien, obwohl wir heute wissen, dass ein Mensch aus etwa zehn Billionen Zellen besteht und sich im menschlichen Organismus etwa zehnmal so viele Bakterien befinden. Das war auch im Mittelalter schon so, nur hätte man eine solche Sichtweise damals vehement abgelehnt, weil man es eben nicht besser wusste. Es ist also immer die Sicht der Dinge die die Maßstäbe setzt.“
Verblüfft schaute sie ihn an: „So hatte ich das noch nicht gesehen. Aber richtig, wir Menschen neigen auf Grund unseres Wissens, das wir über die Schule, das Internet, die Bücher und die Medien vermittelt bekommen haben, dazu, Sichtweisen von vornherein auszuschließen, welche nicht in das Raster der allgemein anerkannten Betrachtungen passen!“
Stephan nickte zustimmend. „Genau! Es ist unser vorgeprägtes Wissen, dass unsere Betrachtungen bestimmt. Die Menschen können die Realität niemals genau kennen. Wenn wir irgendetwas untersuchen, dann bekommen wir immer nur Antworten auf Fragen, die wir stellen, und diese Antworten wiederum basieren auf den Fähigkeiten und der Beschränktheit unseres Denkens. Alles was wir bei unseren Untersuchungen wahrnehmen, sei es nun mit unseren Sinnen oder durch moderne Messgeräte, passiert den Filter unseres Bewusstseins und wird von unserem Verstand bestimmt. Was wir also wahrnehmen ist nichts anderes als ein Wechselspiel zwischen unserem Bewusstsein und dem was außerhalb unseres Verstandes wirklich abläuft. Was wir bei unseren Untersuchungen entdecken, ist immer nur ein eingeschränktes Bild der Realität, das von unserem Verstand quasi gefiltert wurde. Am besten lässt sich das mit einem Foto von einer Landschaft vergleichen, die wir auf einer Urlaubsreise gesehen haben. Wenn ich beispielsweise eine schöne alte Burg fotografiere, so beschränkt sich das Foto nur auf die Perspektive, aus der ich sie fotografiert habe und es zeigt auch nur einen Ausschnitt. Wenn ich nach meiner Urlaubsreise das Foto meinen Freunden zeige, dann sehen sie nur diesen Ausschnitt. Was ich jedoch vor Ort mit meinen eigenen Augen wahrnahm, war viel mehr, als das, was die Kamera erfasste und was nun das Foto wiedergibt. In meiner Erinnerung waren da links und rechts neben der Burg Felsen, die jetzt auf dem Foto gar nicht erscheinen, weil das Kameraobjektiv sie wegen seines beschränkten Winkels nicht zusammen mit der Burg erfassen konnte. Unser Verstand ist im Hinblick auf die Realität also wie ein Kameraobjektiv; er spiegelt nur einen eingeschränkten Ausschnitt derselben wieder. Mit anderen Worten, unser Bewusstsein liefert nur ein äußerst beschränktes Modell der Realität und zeigt niemals die Realität in ihrer gesamten, unfassbaren Komplexität selbst. Was da außerhalb unseres Verstandes auf den verschiedenen Ebenen abläuft, ist viel mehr, als wir wahrnehmen und es existiert, ob wir uns dessen nun bewusst sind oder nicht.“
Julia stieß hörbar Luft aus: „Diese Betrachtung ist so simpel aber man muss erst mal drauf kommen! Für mich ergibt sich da eine Schlussfolgerung: Wenn wir Menschen von vornherein etwas als unreal ausschließen, dann könnte es durchaus sein, dass uns unser Bewusstsein ein Schnippchen geschlagen hat und das vermeintlich Unreale in Wirklichkeit real ist! In einem solchen Fall würden wir uns durch unseren Verstand in unseren Möglichkeiten, die Dinge noch tiefgründiger zu betrachten, nur selbst beschränken!“
„Jepp … darauf wollte ich hinaus! Der durchschnittliche Mensch ist ein Skeptiker und Zweifler und er will alles bewiesen haben um es zu glauben! Indem er aber seinen Glauben derart einschränkt, beraubt er sich seiner Potentiale und Möglichkeiten und der Mensch hat viel mehr davon als ihm bewusst ist. In dieser Hinsicht kann man sogar sagen: Unsere Möglichkeiten sind unbegrenzt!“
„Was meinen Sie damit?“, fragte Julia.
„Nun, um diese Frage zu beantworten, muss ich einmal weiter ausholen! Es gab auf diesem Planeten eine Zeit, da waren sich die Menschen darüber bewusst, dass sie energetische, spirituelle Wesen sind. Es war für sie keine Frage, dass die Erde ein Schauplatz verschiedener kosmischer Dimensionen ist sondern eine Tatsache. In diesem Zusammenhang muss ich erwähnen, dass es da nicht nur die Welt verdichteter Materie gibt, die wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen können, sondern das auf anderen, höheren energetischen Ebenen eine Welt der feinstofflichen Materie existiert, die für die meisten Menschen der heutigen Zeit solange unsichtbar bleibt, wie ihre Seelen mit ihren Körpern verbunden sind. Das hat aber nichts damit zu tun, dass sie sich im Zustand der Körperlichkeit nicht mit den höheren Dimensionen verbinden könnten, sondern damit, dass durch die technisierte, manipulierende, materielle Welt mit ihren religiösen Doktrin und wissenschaftlichen Dogmen bei den Menschen eine Bewusstseinsprägung einstellte, die sie dieser Fähigkeit beraubte. Ich hatte für Sie vorhin einen Moment lang quasi einen Türspalt geöffnet, bei dem Sie einen kurzen Blick auf diese höheren energetischen Dimensionen der feinstofflichen Welt werfen konnten. Eine gewisse Anzahl von Menschen hatte im Zuge von so genannten Nahtoderlebnissen und bei außerkörperlichen Erfahrungen einen kurzen Einblick in die feinstofflichen Dimensionen, unter anderem auch in solche, welche als Jenseits bekannt sind. Gerade diejenigen, die ein Todesnäheerlebnis hatten und den Zustand von Außerkörperlichkeit, klaren Bewusstseins ohne körperliche Einschränkungen, des inneren Friedens und der allumfassenden Liebe erlebten, wissen, dass die materielle Welt, in die sie nach ihrer Reanimation wieder zurückkehrten, nicht die einzige Realität ist. Da sie sich mit dem Thema der Nahtoderlebnisse beschäftigt haben, wissen Sie das ja bereits!“
Julia nickte und sagte: „Oh ja, ich habe darüber einen Artikel verfasst, der sich sehr umfassend mit den Forschungen von Dr. Raymond A. Moody befasst, der die Nahtoderlebnisse von vielen hundert Menschen auswertete.“
„Ich habe ihn gelesen. Es ist ein sehr guter Artikel. Solche Menschen, die über ihren ganz persönlichen Einblick ins Jenseits offen sprechen, sind leider in der Minderheit. Die Meisten verschweigen ihr Wissen oder gehen damit sehr vorsichtig um, weil sie fast immer auf Unverständnis und Ablehnung bei den anderen Menschen stoßen und sich nicht in die Rolle eines geistig verwirrten Außenseiters begeben wollen. Durch ihr Nahtoderlebnis sind sie aber in einen Zustand besonderer Bewusstheit gekommen. Viele dieser Menschen orientieren sich nach ihrer Todesnäheerfahrung um und richten die Prioritäten ihres Lebens völlig neu aus. So war es auch bei mir!“
Auf Julias Gesicht zeigte sich Überraschung. „Was? Sie hatten auch ein Nahtoderlebnis?!“
„In der Tat!“, gab Stephan zu. „Es ist ein prägnanter Teil meines Lebens. Bevor ich aber davon erzähle, möchte ich zunächst meinen Gedanken von vorhin aufgreifen. Ich wollte Ihnen ja erläutern, was ich damit meinte, als ich sagte, die Möglichkeiten des Menschen seien unbegrenzt. Wie bereits erwähnt, gab es auf der Erde eine Zeit, als sich die Menschen darüber bewusst waren, dass sie energetische, spirituelle Wesen sind. Die Menschen lebten damals in so genannten Hochkulturen, von deren glorreichen Zeiten heute noch prächtige Artefakte mit unglaublichen Eigenschaften künden, welche heute noch vereinzelt gefunden werden. In der Regel verschwinden diese Fundstücke aber unverzüglich in den Archiven bestimmter Geheimorganisationen und der Kirche oder in den Tresoren von mächtigen und reichen Personen. Sie ziehen es vor, der Menschheit die Beweise für die Existenz der alten, hoch entwickelten Zivilisationen vorzuenthalten, weil sie unter allen Umständen vermeiden wollen, dass die Wahrheit bekannt wird. Zu den Zeiten dieser Hochkulturen, welche vor zirka fünftausendzweihundert Jahren endeten, kannten die Menschen ihre geistigen Potentiale und sie verfügten über einen natürlichen Zugang zu den höheren Dimensionen. Sie kommunizierten telepathisch, konnten mit ihren hoch entwickelten geistigen Kräften direkt auf Materie einwirken, zum Beispiel durch Teleportation Gegenstände mit großer Masse bewegen oder sich selbst von einem Ort zum anderen bewegen ohne dabei physisch den dazwischen liegenden Raum zu durchqueren. In der Science-Fiktion-Serie Star Trek erfand ihr Produzent und Drehbuchautor Gene Roddenberry dafür den Begriff des Beamens. Raum und Zeit waren für die Menschen damals also keine Kategorien, die ihnen Grenzen setzten.“
Julias Augen wurden groß. „Wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass sich die Menschen früher nur mit der Kraft ihres Geistes in einer Sekunde von einem Ort zu einem anderen bewegen konnten unabhängig davon, wie groß die Distanz zwischen den Orten war?!“
„Ja genau das! Ich bemerke, dass Sie zweifeln. Nun, was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen eine kleine Demonstration liefere, zu was der bewusste Geist eines Menschen imstande ist?“
„Was?! Wollen Sie sich jetzt etwa wegbeamen?!“
„Nein, nicht doch! Wir wollen es nicht gleich übertreiben! Was ich vorhabe, ist nur eine kleine Demonstration gegebener Möglichkeiten, von denen unsere ach so auf ihren Verstand konditionierten Zeitgenossen keine Ahnung haben!“, sagte Stephan und schmunzelte leichthin.
“Na dann machen Sie schon … ich platze gleich vor Neugier!”, sagte Julia und sah ihn erwartungsvoll an.
Phänomene
Stephan stand auf und ging in den Schlafbereich der Suite. An der Seite des Bettes stand eine schwarze Reisetasche. Er öffnete sie und holte etwas heraus, was in Papier eingewickelt war. Er stellte das Päckchen auf den kleinen Schreibtisch der am Fenster stand und lief ins Bad. Keine Minute später kam er wieder und hielt ein Glasgefäß in der Hand, die für Julia verdächtigt nach einer Seifenschale aussah. Stephan nahm das Päckchen von Schreibtisch, kam zu Julia zurück und legte die Sachen auf den kleinen Tisch vor der Couchgarnitur. Julia erkannte nun, dass es sich bei dem Glasgefäß tatsächlich um eine Seifenschale handelte. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was er damit vorhatte. Stephan riss das Päckchen auf und eine weiße Stumpenkerze kam zum Vorschein. Er setzte sich in seinen Sessel, beugte sich vor, zog die Seifenschale auf seine Seite des Tisches und stellte die Kerze darauf.
„Für meine kleine Demonstration benutze ich absichtlich eine unbenutzte Kerze. Ich hatte sie gestern gekauft und wie Sie gerade gesehen haben, war sie noch in der Verpackung!“
Julia sah ihn fragend an. „Okay, hab ich gesehen! Aber was haben Sie vor?“
„Das sollten Sie beobachten, ohne dass ich vorher beschreibe, was passieren wird! Halten Sie nur die Augen offen!“, antwortete Stephan und sah sie bedeutungsvoll an.
„Sie machen es wirklich spannend. Aber gut … ich werde aufpassen wie ein Luchs, der auf der Lauer liegt!“
Als er dies vernahm musste er lachen. „Gut! Aber bitte betrachten Sie mich nicht als Beute!“
Sein Lachen war ansteckend. Es dauerte eine Weile, bis er innehielt und sagte: „Okay Julia! Lassen Sie mich anfangen!“
Stephan rutschte auf die Kante seines Sessels, verlagerte dabei sein Gewicht so nach vorn, dass ihn seine Beine in dieser etwas unbequemen Sitzstellung stützen konnten. Dann hob er seine rechte Hand über die Kerze, wobei er mit dem Daumen und Zeigefinger den Docht der Kerze umschloss, ohne ihn zu berühren. Gebannt schaute Julia zu und fragte sich dabei, was das werden sollte. Stephans Gesicht hatte inzwischen einen sehr konzentrierten Ausdruck angenommen. Mit nahezu entrücktem Blick starrte er auf den Docht der Kerze. Zirka eine Minute passierte nichts.
Langsam ahnte Julia, was er vorhatte. Nein! Das ist völlig unmöglich!
Kaum, dass sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte und ihre Zweifel bereits obsiegen wollten, fing die Kerze plötzlich zu brennen an.
Vor Überraschung stieß Julia einen Schrei aus, sprang vom Sofa auf und zeigte wild gestikulierend auf die Kerze. „Grundgütiger! Nein! Sie haben sie doch gar nicht berührt! Das geht doch gar nicht! Wie zum Geier haben Sie das gemacht?“
Julias Reaktion schien Stephan nicht zu überraschen. Mit einem wissenden Grinsen sagte er: „Das war Magie!“
Julia verzog das Gesicht: „Magie?! Etwa so ein Trick a la David Copperfield?“
„Nein, ganz und gar nicht! Das war echte Magie und kein Trick aus dem Zauberkasten!“, antwortete Stephan.
„Echte Magie?! … Tricks von so genannten Magiern wie Copperfield; wo ist da der Unterschied?“
„Was die Menschen heutzutage unter Magie verstehen, wird in diesen Fernsehshows und auf den Variete-Bühnen vorgeführt. Die Zauberer oder Magier die dort auftreten, haben von wirklicher Magie keine Ahnung. Die Tricks, die sie vorführen sind teilweise spektakulär und Aufsehen erregend, aber letztlich bleiben es Tricks. Wirkliche Magie entsteht durch Beherrschung des Geistes und nicht durch eine geschickte Kombination von Bewegung und Täuschung!“
Völlig entgeistert sah ihn Julia an. „Meinen Sie etwa so wie bei Harry Potter?“
Sein Blick wurde ernst, aber in seiner Stimme lag keine Spur von Abfälligkeit, als er erwiderte: „Das ist ein sehr guter Vergleich! Diese Hollywoodstreifen geben viel mehr Wahrheiten wieder, als wir vermuten! Wir tun diese aufwendig inszenierten Filmhandlungen allerdings als reine Phantasie ab und ahnen nicht ansatzweise, wie nahe sie an die Realität herankommen! Sie bringen mich da auf eine Idee!“
Abrupt sprang Stephan vom Sessel auf und lief durch die Suite zu seinem Bett und zog aus der schwarzen Reisetasche eine kleinere flache Tasche heraus. Diese legte er neben die Reisetasche, zog mit einem Ruck an einem Reisverschluss und ein silbernes Notebook kam zum Vorschein. Sogleich klemmte er es unter den Arm und kam zur Couchecke zurück. Dann setzte sich wieder auf den Sessel und klappte das nun auf seinen Knien ruhende Notebook auf.
Nachdem er kurz daran hantiert hatte, blickte er vom Bildschirm auf und sagte: „Ich möchte Ihnen jetzt einen zum Thema passenden Ausschnitt aus dem Streifen Duell der Magier zeigen! Die Hauptperson des Films heißt Dave und ist ein mächtiger Magier, ohne es zunächst zu wissen. Er wird von einem alten Magier namens Balthazar entdeckt, der ihn schließlich von seiner Gabe überzeugen kann und ihn ausbildet. In dieser Szene des Filmes, erklärt Balthazar das Prinzip von Magie. Es ist jetzt nicht wichtig, die gesamte Geschichte des Films zu erzählen. Es kommt nur auf folgendes an.“
Stephan drehte den Laptop in Julias Richtung. Dann startete er die Filmszene. Julia sah, dass zwei Männer in einem Oldtimer der Marke Rolls Royce saßen, der sich durch die Straßen einer Großstadt bewegte. Die beiden Personen unterhielten sich. Der eine war schlaksig wirkender junger Mann.
„Der mit der Elvis-Tolle, das ist Dave! Der Andere, das ist Balthazar“, erklärte Stephan
Julia erkannte in dem Mann, den Stephan als Balthazar betitelt hatte, den Schauspieler Nicolas Cage, der einen Dreitagebart trug und dessen schulterlange, leicht ergraute Haare wirr herabfielen.
Balthazar schaute mit einem kurzen Seitenblick zu dem jungen Kerl mit der Elvis-Tolle und sagte: „Du weißt, dass der Mensch nur zehn Prozent seines Gehirns nutzt?“
Dave nickte kurz: „Ja!“
Balthazar erklärte weiter: „Zauberer können Materie manipulieren, weil sie mit der Fähigkeit geboren wurden, dass ganze Gehirn zu benutzen, was auch erklärt, warum Molekularphysik so `ne leichte Übung für dich ist.“
Die nächste Szene zeigte die beiden Männer zusammen aus dem Blickwinkel von vorn durch die Frontscheibe des Autos.
„Sekunde … ist Zauberei Wissenschaft oder Magie?“, fragte Dave und aus seiner Stimme klang Verwirrung.
„Ja genau! Fürs Erste brauchst du zunächst nur einen grundlegenden Kampfzauber … das Feuermachen!“
Balthazar verlangsamte die Fahrt und stoppte den Wagen. Nun wechselte die Kulisse und zeigte eine afroamerikanische Verkehrspolizistin, die gerade damit beschäftigt war, ein Knöllchen hinter den Scheibenwischer eines vor einem Geschäft geparkten Autos zu stecken.
Währenddessen fragte Balthazar: „Wodurch erhitzen sich Moleküle?“
„Na durch Schwingungen!“, antwortete Dave.
Die Antwort vernehmend fuhr Balthazar weiter fort: „Alles was wir sehen, ist in einem dauerhaften Zustand von Schwingung, daher die Illusion von Festigkeit! Aber wie schaffen wir es, dass etwas, dass uns als fest erscheint, in Flammen aufgeht? Wir verstärken die Schwingungen durch unseren Willen! Schritt Nummer eins …“
Während Balthazar weitersprach, spreizte er seine rechte Hand, führte sie vor sein Gesicht, schloss die Augen, atmete hörbar ein und stieß die Luft sogleich wieder aus. „ … befreie deinen Geist. Schritt Nummer zwei: Visualisiere die Moleküle!“
Balthazar, riss nun seine Rechte nach vorn in Richtung des geparkten Autos. „ … Schritt Nummer drei …“
Jetzt wurde wieder das geparkte Auto mit der Polizistin eingeblendet, die gerade das Knöllchen hinter den Scheibenwischer gesteckt hatte. „ … mach, dass sie schwingen!“
Das Knöllchen ging augenblicklich in Flammen auf. Die Polizistin zuckte erschrocken zurück und stieß ein überraschtes „Oh!“ aus. Dann sprang sie wieder an den Wagen und versuchte mit dem Wedeln ihres Abrissblockes die Flammen zu löschen. Jedoch war das völlig nutzlos und sie fachte das Feuer sogar noch an. Einige vorbeilaufende Passanten hielten an und schauten amüsiert zu.
Nun wurden Balthazar und Dave aus der Seitenperspektive eingeblendet und man konnte erkennen, dass sich das Auto wieder in Bewegung setzte.
Balthazar fragte: „Klar?“
„Nein hier ist definitiv gar nichts klar!“, erwiderte Dave und klang dabei frustriert.
„Vertrau auf den Ring, Dave, und geh behutsam vor! Die Menschen dürfen nicht erfahren, dass Magie existiert! Das wäre zu kompliziert!“, erwiderte Balthazar.
Dave schaute Balthazar konsterniert von der Seite an. „Und das sagt ein Typ in einem dreihundertfünfzig Jahre alten Rauledermantel!“
Als ob er auf diesen Satz gewartet habe, drehte Stephan das Notebook wieder zu sich und stoppte den Film.
Dann sagte er: „Gut! Mehr müssen Sie vom Film jetzt nicht sehen! Soweit zu einer durchaus guten Darstellung, wie Magie funktioniert. Besser kann ich es auch nicht erklären! Man muss die Schwingungen der Moleküle beherrschen und so die Elemente auf der Ebene der Quanten steuern. Das ist das Grundprinzip! Nur dass es im Film natürlich viel einfacher dargestellt wird, als es in Wirklichkeit ist. Daneben wird die Legende verbreitet, dass Magie nur von Menschen beherrscht werde, welche eine besondere Gabe dafür hätten. Das aber ist völlig falsch! Jeder Mensch kann ein Magier sein.“
Julia runzelte die Stirn und zog zugleich die rechte Augenbraue in einer Art hoch, als ob ihr Stephan gerade eröffnet hätte, dass er in Hogwards zur Schule gegangen wäre und nunmehr als Auror tätig sei. „Tatsächlich?! Das ist ja unglaublich! Also könnte ich das auch erlernen?“
Stephan schüttelte den Kopf. „Man kann Fähigkeiten, die einem innewohnen nicht erlernen! Man muss sie wecken!“
„Sie wecken? Wie geht das?“
„Das ist das Schwierigste überhaupt. Eine Kerze kann man mit seinem Geist nicht einfach so anzünden in dem man sich darauf konzentriert. Wenn Sie es versuchen würden, dann würden Sie scheitern, weil in Ihnen beständig Zweifel daran arbeiten würden, Ihre Absicht zu torpedieren. Es sind unsere Gedanken, die uns bei der Entfaltung unserer geistigen Kräfte immer wieder ein Bein stellen. Dann fehlt es auch am festen Glauben, dass es funktioniert. Unsere Gedanken manifestieren sich in Zweifeln und diese machen alles zunichte. Die meisten Menschen sind nicht in der Lage, ihre Gedanken zu ordnen und zu kontrollieren. Sie sind unfähig, Dinge als real und gegeben anzusehen, die nicht in das Muster althergebrachter oder wissenschaftlich anerkannter Erkenntnisse passen. Das eingeschränkte Wissen, welches ihnen über die Schule, die Ausbildung, über Bücher und die Medien vermittelt wird, beraubt sie all der Möglichkeiten, die ihnen innewohnen, weil sie aus diesem Wissen die unvermeidliche Schlussfolgerung ziehen, dass es nicht funktionieren kann. Zunächst einmal muss man also seinen Geist von all dem Unrat frei machen!“
Stephan hielt inne, wandte seinen Blick von Julia ab und betrachtete das auf dem Tisch liegende Diktiergerät, dessen rot leuchtende Diode signalisierte, dass es noch immer alles Gesprochene aufzeichnete. Stephan schien irgendwie in Gedanken versunken. Dann murmelte er: „Dann muss man die geistige Leere suchen. Das ist ein Zustand, in dem man alles um sich herum ausblendet. Kein einziger Gedanke darf dich von dem ablenken, was du vorhast!“
Sie versuchte zu ergründen, was das Diktiergerät mit dem eben Gesagten zu tun haben könne. Da ihr dazu nichts einfiel und Stephan kein Wort mehr sagte, schaute sie ihn erwartungsvoll an. Er schien sie jedoch gar nicht mehr wahrzunehmen, sondern starrte mit diesem merkwürdig entrückten Blick, den sie bereits vorhin bei ihm bemerkt hatte, auf den Tisch.
Sie folgte seinem Blick. Als sie erfasste, was sie nun sah, stockte ihr der Atem. Wie von Geisterhand gehalten schwebte das Diktiergerät über dem Tisch. Völlig still stand es in der Luft und es schien geradeso, als läge es auf einer unsichtbaren Tischplatte, die sich etwa zwanzig Zentimeter über dem Couchtisch befand. Noch immer blinkte die rote Leuchtdiode. Ein kurzer Seitenblick auf Stephan bestätigte ihr, dass dieser noch immer auf das schwebende Gerät starrte und somit der Urheber dieses physikalischen Paradoxons sein musste. Einen Moment verharrte sie in ihrem Staunen, dann jedoch konzentrierte sie sich wieder auf das Diktiergerät, denn sie wollte nicht auch noch das Ende dieser unglaublichen Vorführung verpassen.
Mit abwesender Stimme sagte Stephan plötzlich: „Öffne deine rechte Hand!“
Einen Wimpernschlag lang überlegte sie, wem diese Anweisung gegolten haben könnte, jedoch begriff sie sofort, dass er sie gemeint hatte. Umgehend hob sie ihren rechten Arm von der Lehne ihres Sessels in Richtung des Tisches und öffnete die Hand. Sofort schwebte das Diktiergerät langsam auf ihre Handfläche zu und kam über ihr zum Stehen. Mit einer Präzision, die sie an eines dieser schwebenden Raumschiffe aus StarWars erinnerte, welches sich im Anflug auf das Landungsdeck eines imperialen Sternenkreuzers befand, sank es langsam auf ihre Hand herab. Währenddessen erfasste sie ein leichtes Kribbeln und für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie den Eindruck, als ob sie selbst die Lenkerin dieses Landemanövers sei.
Dann fühlte sie das kalte Metall des Gerätes. Es lag ganz still in ihrer Hand.
„Sie können es nun wieder ablegen!“, sagte Stephan und schaute sie dabei mit seinen graublauen Augen an, die wieder anwesend wirkten.
„Wow!“, entfuhr es Julia und blickte dabei noch immer völlig gebannt auf das Diktiergerät.
Dem Anblick ihrer anhaltenden Verblüffung geschuldet, musste Stephan lächeln.
Julia schloss nun die Hand um das Diktiergerät und wirkte noch etwas abwesend, als sie sagte: „Schade, dass ich kein Video gemacht habe!“
„Es kommt nicht darauf an, dass sie dieses Phänomen filmen, sondern darauf, dass sie es selbst erlebt haben. Nur so kann sich Unwissenheit und Unglauben in Überzeugung wandeln. Würden Sie meine kleine Vorführung als Video aufnehmen und bei Youtube hochladen, würden die meisten Menschen es als Fake bezeichnen, was wiederum daraus resultiert, dass ihr Schulwissen die Bewegung von Gegenständen mittels geistiger Kraft als Möglichkeit völlig ausschließt.“
Während Julia das Diktiergerät wieder auf den Tisch legte, blickte sie ihn an und seufzte: „Ich glaube, Sie haben Recht! Das würde mir keiner abnehmen, selbst wenn ich davon ein Video gemacht hätte. Man muss es live erleben, sonst glaubt einem das niemand!“
Mit erkennbaren Bedauern erwiderte er: „Daher wäre es schön, ein Podium nutzen zu können, um meine Sichtweise einer großen Zahl an Menschen näher zu bringen!“
Julia spitzte die Lippen. „Sie denken da an eine Liveshow im Fernsehen?“
„Ja genau!“
„Oh, das ist schwierig … obwohl … Potenzial für hohe Einschaltquoten hat das Ganze ja! Ich werde sehen, ob sich da was machen lässt! Ich kenne da einige wichtige Leute!“
Stephan sah sie bedeutungsvoll an: „Ich wusste, dass sie mir helfen würden!“
Da war sein Blick, der in ihr so ein merkwürdiges Gefühl aufsteigen ließ; ein sehr warmes, wohliges Gefühl. Irgendetwas sagte ihr, dass sie ihm blind vertrauen konnte. Dabei kannte sie ihn doch gerade erst seit einer Stunde. Die Skepsis, die sich eher beiläufig in ihrem Verstand generierte, brachte nur noch wenig Kraft auf, als sie sich sagen hörte: „Aber versprechen kann ich nichts!“
„Sie schaffen das schon, da bin ich mir ganz sicher!“
Geist und Materie
„Erklären Sie mir bitte, wie das funktioniert. Ich habe zwar gesehen, dass es geht, aber ich hätte immer gerne einen Bezug zu wissenschaftlichen Ansätzen. Es sind die Zusammenhänge, die mich interessieren!“, sagte Julia.
Stephan schmunzelte. „Ihre Sachlichkeit ist irgendwie typisch für ihren Berufsstand. Sie schließen nicht von vornherein etwas aus, weil man es nicht wissenschaftlich erklären kann, hätten aber gleichwohl gerne eine Erklärung, die eine Brücke zwischen der Wissenschaft und dem speziellen Phänomen schlägt. Nun gut … um ihren Ansatz aufzugreifen: Das was das Diktiergerät zum Schweben brachte war die geistige Steuerung von Quanten. Anders gesagt, habe ich mit meinem Geist ein elektrisches Feld erzeugt, das zu einer Beeinflussung der Schwingung von Quantenfeldern führte. Sie wissen, was Quanten sind?“
Julia runzelte die Stirn: „Naja, ich habe schon mal was von Quantenmechanik gehört, aber ehrlich gesagt, könnte ich jetzt nicht erklären, was es damit auf sich hat! Da müsste ich erst einmal googeln.“
„Kein Problem, ich erkläre es Ihnen kurz. Die Bezeichnung `Quanten` wird sowohl für Elementarteilchen, das ist die kleinste Form von Materie, als auch für Energieeinheiten verwendet. Quanten können sich wie Teilchen aber auch wie Wellen verhalten. Die Erkenntnis, dass jede Materie nicht nur Teilcheneigenschaft besitzt, sondern auch als Welle beschrieben werden kann, ist eine der wichtigsten Errungenschaften der modernen Physik. Dass sich diese winzigen Dinger nicht in die herkömmliche physikalische Betrachtungsweise einordnen ließen, haben die Wissenschaftler durch das so genannte Doppelspaltexperiment erfahren müssen. Bei diesem Experiment wurden einzelne Elektronen nacheinander durch eine Vorrichtung geschossen, die aus einer Platte mit zwei parallel angeordneten Spalten bestand. Sie müssen sich das wie eine Wand mit zwei nebeneinander liegenden Schießscharten vorstellen. Soweit klar?“
Julia nickte kurz.
„Gut! Zunächst stellen Sie sich die Platte etwa so groß wie ein Fenster vor. Würde man sie mittels einer Schussvorrichtung mit kleinen Knetkügelchen beschießen, so würde sich an der dahinterliegenden Wand durch Anhaftung der Kügelchen nach und nach ein Muster zeigen, das der Form der Spalten in der Platte entspricht. Den ganzen Aufbau verkleinert man nun soweit, dass man eine viel kleinere Platte mit zwei Schlitzen hat, durch die statt der Knetkügelchen Elektronen geschossen werden. Was meinen Sie: Welches Muster wird sich wohl auf der hinter der Platte liegenden Wand zeigen?“
„Na zwei schmale Schlitze!“
Stephan schüttelte den Kopf. „Falsch! Auf der hinter der Platte liegenden Wand bildet sich ein Interferenzmuster aus mehreren Streifen, das in etwa so aussieht!“
Er nahm einen Kugelschreiber und zeichnete auf einem vor sich liegenden Schreibblock zunächst mehrere schwarze Streifen. Danach malte er die Zwischenräume zur jeweiligen Mitte hin so aus, dass sie immer heller wurden und ließ jeweils schmale, weiße Stellen übrig. Als er mit dem Zeichnen fertig war, sagte er: „Die Elektronen verhielten sich in dem Experiment somit genau wie Lichtwellen, die bei ähnlichen Versuchsreihen mit der Doppelspaltplatte das selbe Interferenzmuster auf der rückliegenden Wand verursachten! Somit wurde bewiesen, dass Materie in ihrer elementarsten Form auch einen Wellencharakter haben kann!“
Julia starrte zunächst auf die Zeichnung, hob dann den Kopf und sah Stephan fragend an: „Nun gut! Aber was bedeutet das im Hinblick auf das Schwebenlassen meines Diktiergerätes?“
„Ich kann sehr gut verstehen, warum Sie das fragen! Ich war mit meiner Erklärung aber auch noch nicht ganz fertig. Das Verblüffendste habe ich Ihnen noch gar nicht mitgeteilt. Es ist nämlich so, dass die Wissenschaftler dem Phänomen, dass sich die Elektronen im Doppelspaltexperiment wie Wellen verhielten, auf den Grund gehen wollten. Und so platzierten sie an den Spalten eine Messvorrichtung um zu sehen, wie die einzeln abgeschossenen Elektronen dieses Interferenzmuster bildeten. Als sie jedoch den Messvorgang einleiteten und die Elektronen wieder auf die Platte abschossen, verhielten sich die Elektronen jedoch wieder wie Materie, also wie die Knetkügelchen, und bildeten auf der hinteren Wand genau das Muster der zwei Spalten ab. Der Vorgang des Messens, besser gesagt des Beobachtens, führte also zu einer Veränderung des Verhaltens der Elementarteilchen. Das war eine Sensation schlechthin, denn damit wurde faktisch bewiesen, dass das Beobachten Einfluss auf sie nahm. Die Wissenschaftler dachten zunächst an einen Fehler und wiederholten das Experiment dutzende Male, jedoch kamen sie immer zum selben Ergebnis. Solange die Messung vorgenommen wurde, verhielten sich die Elektronen wie Knetkügelchen, also wie Teilchen, sobald jedoch die Messgeräte entfernt wurden, verhielten sie sich wieder wie Lichtwellen.“
Julias ließ ein leises Pfeifen vernehmen. „Das bedeutet ja, dass Quanten auf die Gedanken der Wissenschaftler reagiert haben!“
„Genau! Wenn die Teilchen nicht beobachtet werden, dann nimmt ein einzelnes Partikel eine Superposition ein, man kann das auch eine Vielmöglichkeit nennen, und der Zufall ist das Endergebnis. Wenn sie jedoch beobachtet werden, was bei jeder Messung geschieht, dann verhalten sich Quanten so, dass sie die vorbestimmte Position einnehmen. Die wichtigste Ableitung daraus ist, dass der Geist die Quanten, damit die Materie und damit Abläufe beeinflusst, wenn er sich mit seinem Denken darauf fokussiert, das heißt wenn er beobachtet, wertet und somit agiert.“
„Und das ist in der Quantenphysik anerkannt?“, fragte sie.
Stephan nickte kurz.
„Aber warum wissen die Menschen nichts davon? Wenn ich mir vorstelle, welche Gedanken manche Leute hegen, dann wird mir ganz anders. Diejenigen, die im Geiste Anderen die sprichwörtliche Pest an den Hals wünschen, weil sie sich vielleicht gestritten haben oder weil ihnen etwas angetan wurde, würden ihre Gedanken dann wohl nicht so leichtfertig auf die Welt loslassen, wenn sie wüssten, was sie damit auslösen können.“, sagte Julia.
„Genau das ist das Problem. Das Wissen um die Auswirkungen von Gedanken auf Materie kann ein sowohl ein Segen, als auch ein Fluch sein. Die meisten Menschen sind nicht reif für dieses Wissen, daher ist es gut, dass sie an den Erkenntnissen der Quantenphysik kein Interesse zeigen. Und so bleibt bei ihnen ein einzelner Gedanke meist zu schwach, um im Quantenfeld solche Veränderungen zu bewirken, dass ein Wunsch Realität werden könnte. Allerdings, wenn er mit Wut und großen Emotionen herausgebracht wird, kann er schon eine wahrnehmbare Ereigniskette auslösen. Jedoch wissen die Allermeisten nicht um die Kraft ihrer Gedanken. Sie sind von ihren täglichen banalen Aktivitäten, von ihrem unermüdlichen Lauf im Hamsterrad der Oberflächlichkeiten so sehr abgelenkt, dass sie keinen Gedanken auf ein Ziel fokussieren können. Da sie dafür auch keinen Glauben aufbringen, verharren sie in einer Art geistigen Standby-Position, die sie daran hindert, ihr wirkliches Potenzial auszuschöpfen. Der Glaube ist der erste Schritt, um den eigenen Geist so auszurichten, dass er frei von all den Ablenkungen und Zerstreuungen große Dinge bewirken kann.“
Julia schaute ihn verwundert an: „Den Geist von Ablenkungen frei zu bekommen, dürfte ziemlich schwer sein. Wenn ich mir vorstelle, dass die meisten Menschen sehr stark auf ihren Job fokussiert sind oder schlichtweg ihren schwierigen Alltag bewältigen müssen und somit permanent unter Druck stehen, weil sie die von ihnen geforderten Leistungen bringen müssen, dann bleibt diesen Leuten wohl kaum die Zeit, um ihre Gedanken frei zu bekommen!“
„Genau das ist das Problem. Ihr Leben könnte sehr viel leichter sein, wenn sie sich die Zeit nehmen würden, um ihren Geist frei zu entfalten. Zugegeben, das ist fürs Erste eine gewaltige Umstellung, denn man muss sein Denken völlig neu strukturieren! Wenn man jedoch diese Schranke überwunden hat und die Synapsen im Gehirn neu geschaltet sind, dass sie die unendlichen Möglichkeiten des Geistes entfalten können, dann stehen alle Türen offen und der Mensch verlässt die Box seiner eigenen Beschränkungen!“
„Aber wie kommt man dahin?“, fragte Julia.
„Nun, Sie müssen alle alten Denkweisen, alle Zwänge, alle Süchte hinter sich lassen. Das geht am besten, wenn man sich für ein paar Monate von der Außenwelt völlig abschottet und die Zeit an einem abgeschiedenen Ort, zum Beispiel einem buddhistischen Kloster verbringt. Keine Zeitung, kein Internet, kein Fernsehen. So habe ich jedenfalls mein Potenzial entfalten können, mit Entsagung, Meditation und Übung.“
Julia machte große Augen. „Nicht jeder kann mal eben für ein paar Monate abtauchen und in ein Kloster gehen. Gibt es nicht noch andere Möglichkeiten?“
Stephan nickte. „Oh die gibt es! Zum Beispiel wenn sich viele Menschen zusammenfinden, die ihren Geist zeitgleich auf ein Ziel ausrichten dann werden sich diese Gedanken so potenzieren, dass sich das Quantenfeld danach ausrichtet. Je mehr Menschen es sind, umso größer sind die Auswirkungen. So bewirkten in einem Fall etwa fünfzig Menschen allein durch das Ausrichten ihres Geistes unter Meditation, dass das Wasser in einem See wieder klar wurde, der zuvor durch Menschenhand aus dem ökologischen Gleichgewicht gebracht worden war. Das war vor zwei Jahren ganz in der Nähe von hier. Die Leute ließen sich rund um den See zur Meditation nieder und richteten zeitgleich ihre Gedanken auf die Klärung des Wassers und die Regeneration des Ökosystems. Dies wiederholten sie an drei aufeinander folgenden Tagen. Einige Tage später war das Wasser wieder klar. Die Wissenschaftler konnten sich das Phänomen nicht erklären, galt der See doch als tot. Die Gruppenmeditation unter Ausrichtung ist eine sehr wirkungsvolle Methode, welche allerdings für die Weiterentwicklung der eigenen geistigen Potentiale wiederholt werden muss. Je öfters Sie ihren Geist in solchen Gruppen auf ein Ziel fokussieren, je mehr werden Sie geistige Freiheit erlangen, in dem Sie Ihr Ego-Denken ausblenden und sich in das AlleinsSein gleichschwingender Energie integrieren!“
„Ist das nicht ein Widerspruch? Ich erlange bei dieser Methode dann geistige Freiheit, wenn ich mich einem Gruppenzwang unterwerfe!“, warf Julia ein.
„Nun, auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so. Jedoch ist es anders! Geistige Freiheit bedeutet nicht, dass man seine Individualität verliert, wenn man sich in etwas Größeres einfügt. Einzig die mentale Isolation gibt man auf. Es ist diese Isolation, die uns von unseren wirklichen Potentialen abschirmt. Sie haben es doch vorhin selbst erlebt, was es heißt, mit allem verbunden zu sein. Fühlten Sie sich dabei irgendwie unfrei?“
Julia schüttelte den Kopf: „Nein! Das ganze Gegenteil war der Fall! Ich fühlte mich so frei wie nie zuvor!“
„Sehen Sie … es ist nur ein scheinbarer Widerspruch! Die Gesetze des Universums sind mit unseren eingeschränkten Sichtweisen nicht immer leicht zu verstehen!“, sagte Stephan.
„Okay … nun habe ich vielleicht auf Anhieb nicht so viele Gleichgesinnte, die mit mir zusammen meditieren und mit denen ich mich auf ein Ziel ausrichten kann. Wie kann ich nun meinen Geist frei entfalten, all die Zwänge loswerden und mein wahres Potential ausleben ohne gleich für Monate von der Bildfläche zu verschwinden oder mir eine gewisse Anzahl an Geistesverwandten suchen zu müssen?“, fragte Julia und wischte sich beiläufig eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Stephan lachte kurz auf und sagte dann: „Oha! Sie sind nicht gerade die Geduldigste! Aber gut … ich kann das verstehen! Früher wollte ich auch immer alles sofort und musste zunächst lernen, dass der Weg zum Ziel die meisten Erkenntnisse bereit hält und nicht das Ziel selbst. Allerdings durchlebt jede inkarnierte Seele ein anderes Schicksal. Die Einen kommen schneller ans Ziel als die Anderen. Wenn es gegeben ist, dann gibt es Abkürzungen. So kann die Begegnung mit einem Avatar dazu führen, dass sich die inkarnierte Seele wieder schneller vom Schleier der Unbewusstheit verabschiedet!“
Julia runzelte die Stirn. „Avatar?! Schleier der Unbewusstheit?! Sie sprechen in Rätseln!“
Stephan schwieg einen Moment, schien über diesen Einwand nachzudenken. Dann sagte er leise: „Sorry! Ich erkläre es kurz. Avatare sind hochschwingende Seelen reinster Energie, welche in diese Welt inkarnieren, um durch ihre Taten, durch ihr Erscheinen und Wirken Zeichen zu setzen. Sie sind es, die so genannte Wunder vollbringen und den anderen Seelen durch Vermittlung ihrer unverfälschten Sichtweisen Hoffnung und Trost bringen, die harte Zeit der Inkarnation besser zu überstehen und den Weg zu finden, den zu gehen, sie bestimmt sind. Einige Avatare, welche auf der Erde weilten, dürften Sie kennen. Krishna, Jesus Christus, Siddhartha Gautama Buddha …“
Staunend öffnete Julia den Mund. „Jesus war ein Avatar?!“
„Oh ja! Als er in seiner menschlichen Erscheinung auf Erden weilte, hatte er eine Sichtweise, die den Menschen seiner Zeit weit voraus war und auch noch das heutige Wissen der Menschen übertrifft. Er wusste um das Prinzip der Quantenfelder und beherrschte die Methoden, um sie zu beeinflussen um damit die Materie zu verändern. Für ihn war Glauben nicht nur Glauben, sondern zugleich Wissen, dass es stets so ist, wie es sich im Geiste manifestiert. Er setzte dieses Wissen in seinen Handlungen um und diese wurden dann von den Menschen als Wunder angesehen. Sie hatten nicht die Kenntnisse und die Auffassungsgabe, um zu begreifen, dass Jesus nur die ewigen Gesetze des Universums und des Geistes in der materiellen Welt anwandte, in dem er zum Beispiel über das Wasser lief oder Wasser in Wein verwandelte. Jedoch vermochte es Jesus, seinen Jüngern Einsicht in seine Sichtweisen zu verschaffen. Auch wurde bestimmten Menschen bisweilen durch eine einfache Berührung Jesus` die Erleuchtung zuteil. Die meisten seiner Zeitgenossen vermochten es jedoch nicht, hinter den Sinn seiner Worte zu schauen. Sie hörten zwar, was Jesus sagte, aber sie verstanden nicht, was er damit meinte. Wenn man zum Beispiel das Gleichnis mit dem Senfkorn betrachtet, wonach Jesus gesagt hat: `Wenn euer Vertrauen nur so groß wäre wie ein Senfkorn, könntet ihr zu diesem Berg sagen: ‘Rück weg von hier nach dort!’ Und er wird wegrücken. Nichts wird euch unmöglich sein.`, dann meinte er damit tatsächlich das, was er sagte, denn er wusste, dass man mit dem Geist die Materie beherrscht, man also den Berg mit dem Willen verrücken kann. Der Verweis auf das Senfkorn war dabei nichts anderes als der Bezug auf die winzigen Quantenteilchen, aus denen sich alle Materie zusammensetzt und durch deren geistige Beeinflussung große Wirkungen in der materiellen Welt hervorgerufen werden können!“
„Aber woher hatte Jesus dieses Wissen?“, fragte Julia.
„Er hat es nicht bekommen. Es wohnte ihm stets inne!“, antwortete Stephan.
„Wie meinen Sie das?“
„Ich glaube, das muss ich Ihnen nicht erklären!“
Als könne sie dort eine Antwort lesen, starrte Julia auf das Blatt Papier, auf das Stephan das Interferenzmuster gezeichnet hatte. Eine Weile herrschte Schweigen im Raume. Eine plötzliche Erkenntnis ließ sie zu ihm aufblicken. „Jesus ist Gottes Sohn!“
Mit seinen graublauen Augen sah er sie bedeutungsvoll an. „Ich wusste, dass Sie das sagen würden! Diese Betrachtung richtet sich fälschlicherweise nur auf seine vermeintliche Stellung als Gottes Sohn. Da er es ist, muss ihm all das Wissen seines Vaters innewohnen. Dabei kommt eine verklärte Sicht auf Gott zu Tage, die durch unsere Kulturen und unsere Religionen gezeichnet wird. Danach ist Gott ein personifizierter Jemand mit einem weißen Bart, der irgendwo sitzt und darüber wacht, dass alle Menschen sich nach seinen Geboten verhalten und die bestraft, die ihn missachten. Hierauf folgt die Vorstellung, Jesus hätte als Gottes Sohn die Menschen von ihren Sünden befreit, in dem er sie auf sich nahm und so die Welt rettete. Aber diese Annahme, dass Jesus für unsere Sünden sterben musste, ist meines Erachtens eine Art Betrug. Wie können wir als inkarnierte Seelen wachsen und aus unseren Fehlern lernen, wenn wir Jesus nur als `Heilsbringer` ansehen, der uns im Namen Gottes die Absolution erteilt, wenn wir nur rechtzeitig Reue zeigen und unsere Sünden gestehen? Was ist das für ein verklärtes Gottesbild?!“
Stephan wandte den Blick von ihr ab und starrte gedankenversunken in Richtung seiner Reisetasche, die noch immer auf dem Bett stand. Als er sich Julia erneut zuwandte, hellte sich seine Miene auf, so als fiele ihm erst jetzt wieder ein, dass er mit ihr gesprochen hatte. „Tut mir leid, dass ich eben etwas belehrend rüberkam! Ich möchte Ihnen die Antwort geben, warum Jesus dieses Wissen über Quanten und die geistige Beherrschung der Materie innewohnte: Weil er bei seiner Geburt bewusst geblieben ist. Was heißt das nun? Im Unterschied zu anderen inkarnierten Seelen blieb es ihm erspart, bei seiner Geburt das Tor der Unbewusstheit zu passieren. Um zu erfassen, was ich damit meine, ist eine kurze Erläuterung zum Thema Reinkarnation und Weltbild nötig. Beim rein materialistischen Weltbild wird davon ausgegangen, dass der Mensch geboren wird, sein Leben lebt und stirbt. Es gibt danach keine Trennung zwischen Körper und Geist. Mit dem Körper stirbt auch das Bewusstsein. Die spirituelle Sichtweise, die auch meine ist, geht hingegen davon aus, dass Körper und Geist getrennt zu sehen sind, das heißt mit dem Tod keine Einheit im Diesseits mehr bilden und die unsterbliche Seele in die andere Dimension, das Jenseits, übergeht. Der Geist ist unser Ich-Bewusstsein, welches mit dem Tode des physischen Körpers nicht einfach aufhört, zu existieren. Es geht weiter, denn das `Ich` hört nicht auf, wahrzunehmen. Die Seele reinkarniert irgendwann in einen neuen Körper. Warum tut sie das? Was wir auf dieser Seite, in unserem Körper und in dieser Welt absolvieren, ist so etwas wie ein `Ausbildungslager` um uns fortzuentwickeln. Unsere eigene Seele hat hierbei vor der Reinkarnation das `Drehbuch`, den Lebensplan, für dieses Leben geschrieben. Natürlich sind wir uns dessen nicht bewusst. Denn man muss beim Übergang ins physische Leben das Tor der Unbewusstheit passieren. Das bedeutet, dass man nach der Verschmelzung mit seinem physischen Körper sich nicht mehr erinnern kann, was man eigentlich in dieser Welt wollte. Diese drastische Methode hat einzig und allein den Zweck, dass man unvoreingenommen in diese neue irdische Leben eintritt und somit alle Chancen wahrnehmen kann, um die Lebensplanung ohne Einfluss der Erinnerung an frühere Leben oder die spirituelle Existenz im Jenseits zu vollziehen. Angesichts dessen, dass da so negative und teilweise schlimme Schicksalsschläge im eigenen Leben passieren, mag es unglaublich sein, dass man diese Dinge in den eigenen Lebensplan geschrieben hat. Als rationell denkender Mensch müsste man meinen, dass man doch, wenn man es selbst in der Hand hat, sich nur Harmonie, Glück und Liebe in den eigenen Lebensplan schreiben würde. Jedoch wäre dann kein geistiges Wachstum der Seele möglich, weil man dann doch gleich in der jenseitigen Ebene bleiben könnte, weil es da irdische Probleme gar nicht gibt, denn die Seele lebt dort in Harmonie, Glück und Liebe. Insoweit ist es einleuchtend, dass die Seele im irdischen Leben nur `wachsen` kann, wenn sie in ihren Lebensplan ein Lernpotential hineingeschrieben hat. Im Unterschied zu den anderen inkarnierten Seelen wird den Avataren ein bedeutender Teil ihrer Bewusstheit gelassen. Die Seelen, die als Avatare inkanieren, haben nämlich bereits so viele Lebenszyklen absolviert, Erfahrungen gesammelt und Erkenntnisse gewonnen, dass sie nicht mehr inkarnieren müssen, sondern sich freiwillig der Aufgabe stellen, andere nicht so weit entwickelte Seelen in ihrem irdischen Leben zu führen und zu geleiten. Daher bleibt Ihnen so viel Wissen, dass sie ihre Vorreiterrolle auch spielen können.“
Julia stieß hörbar Luft aus. „Wow! Woher wissen Sie das alles?“
„Weil ich die andere Seite gesehen habe, dass heißt, weil mir dabei ein Teil meiner Bewusstheit zurückgegeben wurde!“, erwiderte Stephan.
„Sie meinen Ihr Nahtoderlebnis?“
„Ja genau das! Wollen Sie wissen, was passiert ist?“
„Oh gerne!“
Stephan stand vom Sessel auf, durchquerte die Suite und blieb am Bett vor der schwarzen Reisetasche stehen. Er wühlte in ihrem Inneren und zog schließlich einen filigran verzierten, silberfarbenen Zylinder heraus. Mit dem Ding in der Hand wandte er sich zu Julia um und sagte: „Was halten Sie davon, eine kurze Zeitreise zu unternehmen?!“
Bewusstseinsmatrix
Die Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Eine Zeitreise?“
Er stutzte über die Art ihres Staunens. „Keine Zeitreise, wie Sie sich vielleicht vorstellen, sondern eine Reise zu ausgesuchten Momenten meines früheren Lebens. Ich möchte Ihnen zeigen, wie ich früher war. Sicher könnte ich Ihnen das auch alles erzählen, aber wäre es nicht besser, wenn Sie es selbst erleben würden?“
Julia riss die Augen auf. „Meinen Sie allen ernstes, sie könnten mich zu einem früheren Zeitpunkt ihres bisherigen Lebens zurückbringen und ich könnte mir selbst anschauen, was Sie damals so gemacht haben? Das klingt unglaublich! Wie soll das gehen?“
„Mit diesem Gerät!“ Demonstrativ hob er den Zylinder in seiner Rechten. „Das ist ein Visualisierer!“
„Ein Visualisierer?! Und das Ding kann mich zu früheren Zeitpunkten in Ihrem Leben zurückbeamen?“
Er schüttelte den Kopf: „Nein, das eben nicht! Mit diesem Gerät können Episoden aus meinem Leben vorgeführt werden. Das heißt, der Betrachter muss nicht in der Zeit zurückreisen um meine Erlebnisse zu teilen, sondern er begibt sich in eine Projektion, die der Visualisierer aus meiner spirituellen Bewusstseinsmatrix herausliest und auf den Betrachter überträgt. Alles was wir in dieser Inkarnation, in diesem Körper erleben und was wir bereits in früheren Leben, in anderen Körpern und in jenseitigen Ebenen erlebten, wird in unserer Bewusstseinsmatrix gespeichert. Die Bewusstseinsmatrix ist an Geist und Seele gebunden, nicht jedoch an den Körper. Ich möchte daher betonen, dass der Visualisierer kein Gehirnscanner ist. Nur wenige der gespeicherten Informationen der eigenen Bewusstseinsmatrix sind während einer Inkarnation verfügbar. Ich hatte vorhin bereits erläutert, dass wir unseren vorgeprägten Lebensplan unbeeinflusst durchlaufen sollen, daher gibt es diese Sperre. Die vollständigen Informationen der Bewusstseinsmatrix sind erst wieder gegenwärtig, wenn wir auf die jenseitige Ebene zurückkehren. Manchmal ist es auch bestimmt, dass wir ab einem bestimmten Zeitpunkt während der Inkarnation auf Teile dieser Informationen zurückgreifen dürfen. Jedoch sind es während eines Lebenszyklus nur die eigenen Erlebnisse, welche als mehr oder weniger ausgeprägte Erinnerungen im Gehirn verbleiben und dem Inkarnierten zur Verfügung stehen. Unser bewusstes Denken wirkt wie ein Filter, durch den bestimmt wird, was von unseren alltäglichen Erlebnissen im Gehirn gespeichert werden soll und was nicht. Abhängig von unserer physischen und psychischen Kondition, stehen diese Erlebnisse dann zeitlebens als mehr oder weniger schwache Erinnerungen zur Verfügung.“
„Moment! Wollen Sie damit etwa sagen, dass unser Gehirn gar nicht all die Informationen zu erfasst, die von unserem Bewusstsein wahrgenommen werden?“
„Genau! Das Gehirn wäre dazu vielleicht in einem begrenzten Maße in der Lage, wie sich das schon bei bestimmten Menschen mit Autismus gezeigt hat, jedoch würden wir die gesamte ungeheure Fülle an Informationen nicht verarbeiten können. Diesbezüglich sind uns durch unsere körperlichen Beschränkungen Grenzen gesetzt. Es macht auch keinen Sinn, dass das Gehirn zum Beispiel in diesem Augenblick alle Einzelheiten dieses Hotelzimmers, die ich mit meinen Augen erfasse, speichert und für den Rest meines irdischen Lebens verfügbar macht. Der Nobelpreisträger für Gehirnphysiologie Sir John Carew Eccles und der große österreichisch-britische Philosoph Sir Karl Raimund Popper haben in ihrem gemeinsamen Werk „Das Ich und sein Gehirn“ beschrieben, dass das bewusste Selbst oder die Seele von den materiellen Gehirnfunktionen unabhängig existiert und beim Gehirntod nicht zerstört wird. Hierzu haben sie ein Gleichnis verwendet: Das Gehirn und der Körper entspricht dem Computer. Das bewusste Selbst, die Psyche oder die Seele, entspricht dem Programmierer. Der Computer ist das Werk der biologischen Entwicklung der materiellen Welt eins. Der Programmierer hingegen befindet sich als göttliche Schöpfung in der unzerstörbaren Welt zwei, also außerhalb der sterblichen biologischen Welt. Dieses Gleichnis auf die Bewusstseinsmatrix bezogen, lässt ableiten, dass diese ein Bestandteil der Programmierung, also der unzerstörbaren Welt ist. Daher wird in ihr alles, wirklich alles, gespeichert, was von unserem Bewusstsein jemals erfasst wurde. Wenn Sie sich also heute nicht mehr erinnern können, welche Kleidung sie am 23. Mai vor zehn Jahren getragen haben, ist diese Information jedoch in ihrer Bewusstseinsmatrix vorhanden. Alle Informationen Ihres jetzigen Lebens, also auch die über die von Ihnen vor zehn Jahren getragene Kleidung, können aus ihrer Bewusstseinsmatrix abgerufen werden. Hierzu dient der Visualisierer!“
Julia stand vor Staunen der Mund offen und sie brachte kein Wort heraus. Dann fing sie sich und sagte: „Das ist ja unglaublich! Wie funktioniert dieses Ding?“
Auf diese Frage hin fixierte er sie mit seinen graublauen Augen und schien dabei tief in ihr Inneres zu schauen. Als er sie so ansah, fühlte sie sich irgendwie nackt; wie ein offenes Buch. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, aber es dauerte nur wenige Sekunden bis er leise sagte: „Ich glaube, Sie können das!“
„Was kann ich?“
„Sich von allen bisherigen Sichtweisen vollständig lösen! Dies ist nötig, um zu verstehen, wie der Visualisierer funktioniert. Alles was man Ihnen in der Schule an Wissen vermittelt hat, ist nur ein Bruchteil dessen, was tatsächlich gegeben ist. Vieles von diesem Wissen ist sogar völlig falsch. Die Menschen experimentieren zum Beispiel mit der Spaltung von Atomen und haben keine Ahnung, was sie damit anrichten. Aber ich möchte nicht abschweifen. Der Visualisierer basiert auf der Erkenntnis, dass alle Informationen im Universum erhalten bleiben und nicht an Materie gebunden sind. Es ist das unermessliche kosmische Bewusstsein, dass wie ein riesiger, ewiger Speicher alles in sich aufnimmt und vereinigt. Dieses kosmische Bewusstsein ist allumfassend, allwissend und allgegenwärtig. Manche Menschen nennen es Gott, andere bezeichnen es als Universum oder Nirvana. Jede einzelne Seele, man könnte auch sagen jedes einzelne Ich-Bewusstsein, ist aus diesem großen Ganzen hervorgegangen. Wir, die wir denkende, bewusste Wesen sind, sind Teil dieses kosmischen Bewussteins und untrennbar mit ihm verbunden. Das kosmische Bewusstsein ist reine Energie, die in unterschiedlichen Formen und auf verschiedenen Ebenen in Erscheinung tritt. Wenn eine Seele in einen festen Körper inkarniert, begibt sie sich eine Welt hoch verdichteter Materie die sich auf einem energetisch niedrigeren Niveau befindet, als es in den spirituellen Ebenen vorherrscht. Die Geburt ist für die inkarnierte Seele eine unheimlich anstrengende Sache, weil sie bei ihrer Ankunft die Last der materiellen Begrenztheit von Raum und Zeit wie ein Schlag trifft. Wenn die Seele auf die Erde inkarniert, dann verschmilzt sie mit einem menschlichen Körper, der in seiner physischen Form mit den begrenzten materiellen Gegebenheiten klarkommen muss. Dieser Körper funktioniert dabei wie ein Werkzeug, dass die Seele in die Lage versetzt mit dieser materiellen Welt zu interagieren und das vorbestimmte Lebensprogramm zu absolvieren. In der Yoga-Philosophie betrachtet man den physischen Körper als das Fahrzeug der Seele auf ihrem Weg zur Erleuchtung. Dieser Vergleich trifft es ganz gut. Die Seele bleibt, auch nachdem sie in den menschlichen Körper inkarniert ist, stets mit den höheren nichtmateriellen Ebenen verbunden. Jeder Mensch ist somit zwar auf der einen Seite ein materielles, auf der anderen Seite aber zugleich auch ein spirituelles Wesen.“
Verwundert blickte sie ihn an. „Soll das heißen, dass auch ich spirituell bin?“
„Aber selbstverständlich! Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob Sie sich darüber bewusst sind oder nicht. Jeder Mensch verfügt neben seinem physischen Körper, der der Alterung unterliegt, über einen weiteren Körper, der der spirituellen Ebene zuzuordnen ist. Auf der physischen Ebene ist der menschliche Körper grobstofflich. Wir können ihn auf dieser Ebene sehen, riechen und fühlen. Was die meisten von uns nicht wahrnehmen können, ist die Aura eines Menschen, in der eine Vielzahl von Energiewirbeln, die so genannten Chakras integriert sind. Man nennt dieses Gebilde von Aura und Chakras den Ätherkörper. Er besteht aus feinstofflichen Teilchen, die der subatomaren Ebene zuzuordnen sind. Der Ätherkörper stellt ein Energiefeld dar, ohne das ein Mensch in der hoch verdichteten materiellen Welt gar nicht existieren könnte. Er umschließt den physischen Körper wie eine Hülle. Diese energetische Hülle, die Aura, wird von einem komplexen System von Haupt- und Nebenchakras belebt, die sich unaufhörlich drehen und für die notwendige Lebenskraft sorgen. Über den Ätherkörper fließt diese feinstoffliche Energie in die physische Ebene und hält sie lebendig. Aber nicht nur das! Der Ätherkörper bildet zugleich den Speicher für die Gedankenformen und Erinnerungen, die unser Bewusstsein hervorbringt. Die Aura eines Menschen wird von dessen Gedanken und Emotionen nachprüfbar beeinflusst. Mittlerweile wurden Geräte entwickelt, die dies sogar messen können. Abgesehen davon leben unter uns natürlich auch Menschen, die die Aura eines anderen direkt sehen können. Diese Fähigkeit beruht auf einer Ausdehnung des normalen Sehvermögens, die darauf zurückzuführen ist, dass Empfindsamkeit und Empathie bei diesen Menschen besonders ausgeprägt sind. Eine solche Gabe kann sich als Segen oder auch als Fluch herausstellen!“
Julia runzelte die Stirn. „Wieso das denn? Ist es nicht vorteilhaft, wenn man direkt sehen kann, wie die Gefühlslage meines Gegenübers ist?“
„Könnte man so sehen! Aber das ist nicht immer angenehm. Wenn dein Gegenüber zum Beispiel wütend oder zornig ist, dann sehen Menschen mit empathischen Fähigkeiten das nicht nur an der dunklen Aura, die den betreffenden Menschen in solchen Momenten umgibt, sie spüren es auch. Dieses Gefühl kann aber je nach Stärke der Energie wie ein Gewitter über dich hereinbrechen und zeigt sich wie ein äußerst unangenehmer stechender Schmerz. In solchen Momenten wäre es sicher besser, wenn man diese Gabe abstellen könnte. Ich möchte das aber nicht weiter vertiefen, denn eigentlich wollte ich Ihnen nur erläutern, wie dieser Visualisierer funktioniert!“ Stephan deutete auf den metallischen Zylinder, den er mittlerweile auf dem Couchtisch abgelegt hatte. „Es reicht also, wenn Sie sich merken, dass der Visualisierer in der Lage ist, die Bewusstseinsmatrix auszulesen und für jedermann sichtbar zu machen.“
„Okay, und wie funktioniert das nun?“, fragte Julia und klang dabei etwas ungeduldig.
Stephan dachte einen Moment nach, dann sagte er: „Ich versuche mal, diesen technisch höchst komplizierten Prozess so zu erklären, dass Sie es verstehen können. Wir nehmen also den Visualisierer und die Person, deren Bewusstseinsmatrix ausgelesen werden soll, legt eine Hand auf das Gerät. Der Anwender, das heißt derjenige, der den Visualisierer bedient, gibt den mentalen Befehl zum Start der Erfassung. Beim Erfassungsvorgang wird ein Strom einzelner Photonen im Winkel von 45 Grad auf einen halbdurchlässigen Spiegel gelenkt. Passiert ein Photon den Spiegel, wird eine binäre Eins erzeugt, eine Reflektion liefert den Wert Null. Soviel zum Kern des quantenphysikalischen Prozesses.”
Julia blies die Backen auf: “Puh! Ich verstehe nur Bahnhof!”
Stephan grinste bei dieser Bemerkung, setzte aber unbeirrt fort: “Der eigentliche Ablauf geht in zwei Schritten von statten. Beim ersten Schritt werden die Schwingungsmuster sondiert. Das einzulesende Schwingungsmuster wird hierbei der Bewusstseinsmatrix zugeordnet, ein zweites Schwingungsmuster ist hingegen in der Datenbank des Gerätes vorhanden und dient als Vergleichswert. Der Visualisierer wertet eine Ähnlichkeit des erfassten Schwingungsmusters mit der in ihm vorhandenen Information als einen Hinweis aus, dass die entsprechende Information mit der Bewusstseinsmatrix in Beziehung steht. Danach folgt als zweiter Schritt die Analyse durch einen Schwingungsvergleich. Aus diesem Schwingungsvergleich lässt sich zum Beispiel die organische und mentale Befindlichkeit eines Menschen in der aktuellen Inkarnation ermitteln. Der Visualisierer könnte also auch im medizinischen Bereich als ganzheitliches Diagnosegerät eingesetzt werden. Diese Einsatzmöglichkeit soll im Moment aber nicht vertieft werden. Hat der Visualisierer also den Abgleich zwischen den Schwingungsmustern vollzogen, ist eine permanente Verbindung zwischen dem Gerät und der Bewusstseinsmatrix des betreffenden Menschen aufgebaut. Nun werden alle in der Bewusstseinsmatrix vorhandenen Informationen abgerufen, die für die spezielle Analyse des Anwenders benötigt werden. Soweit verstanden, Julia?“
Statt einer Antwort, stieß Julia hörbar Luft aus und schüttelte den Kopf. „Wenn ich ehrlich bin, nein!“
Stephan kratzte sich nachdenklich am Ohr und seufzte leise. „Mhmmmh … ich hatte mir schon fast gedacht, dass ich Ihnen zu viel abverlange. Nun … ich versuche es mal anders zu erklären. Sie haben doch ein Handy?“
Julia nickte.
„Sicher haben Sie auch ein Notebook und verbinden es von Zeit zu Zeit mit Ihrem Handy um bestimmte Daten zwischen den Geräten auszutauschen?“
Ihr erneutes Nicken bestätigte seine Vermutung.
„Okay! Dann stellen Sie sich ganz einfach vor, dass die Bewusstseinsmatrix ihr Handy und der Visualisierer ihr Notebook wäre. Was passiert, wenn sie ihr Handy zum ersten Mal mit dem Notebook verbinden?“, fragte Stephan.
„Das Betriebssystem des Notebooks erkennt das Handy und installiert einen Treiber!“, antwortete Julia.
„Nicht ganz! Sie haben einen wichtigen Schritt ausgelassen!“
Julia zuckte mit den Achseln und sah Stephan fragend an.
Dieser nickte kurz, als habe er diese Reaktion erwartet und sagte: „Damit das Betriebssystem des Notebooks das Handy überhaupt erkennen kann, muss in seiner Systemdatenbank eine Information über den Handytyp vorliegen. Diese Angabe liegt in der Regel immer vor, weil das Betriebssystem über das Internet regelmäßig die Signaturen neuer Hardware erfasst. Schließe ich also mein neues Handy der Marke Musterhandy, Typ 0815, über ein USB-Kabel an mein Notebook an, erkennt das Betriebssystem, das ein Handy der Marke Musterhandy, Typ 0815, angeschlossen wurde und beginnt automatisch damit, den passenden Treiber zu installieren. Nachdem das erledigt ist, wird das Notebook das Handy der Marke Musterhandy, Typ 0815, unter tausenden anderer Handytypen sofort erkennen und eine jedes Mal sofort eine Verbindung herstellen. Diese Verbindung zwischen dem Handy und dem Notebook ist die Voraussetzung damit die beiden Geräte zukünftig beliebig oft miteinander Daten austauschen können. Nun müssen Sie sich vorstellen, das Handy wäre die Bewusstseinsmatrix eines Menschen und das Notebook wäre der Visualisierer. Beim Handauflegen auf den Visualisierer erkennt dieser, dass eine Verbindung mit einer menschlichen Bewusstseinsmatrix hergestellt werden soll. Er gleicht dann die in seiner Datenbank vorliegenden Schwingungsmuster mit dem Schwingungsmuster der zu erfassenden Bewusstseinsmatrix ab. Bei den in der Datenbank des Visualisierers vorliegenden Vergleichsmustern handelt es sich um unzählige Grundtypen von Körper-Geist-Seele-Einheiten. Eine solche Körper-Geist-Seele-Einheit kann ein Mensch sein, der auf der Erde lebt. Es kann aber auch ein Bewohner eines Planeten sein, der sich in einem weit entfernten Sonnensystem befindet.“
Julia sah ihn verwundert an. „Meinen Sie damit etwa, dass es auch außerirdische Lebensformen gibt und die Seele nicht ausschließlich in menschliche Körper auf der Erde inkarniert?!“
„Genau das! Es existieren sehr viele Planeten im unendlichen Kosmos auf denen die dort vorhandenen natürlichen Bedingungen eine Inkarnation in einen physischen Körper zulassen. Das kann ein Körper sein, der dem Körper eines Menschen sehr ähnlich ist, dass kann aber auch ein Körper sein, der eher dem Bild eines Außerirdischen entspricht, wie es durch diese vielen Hollywood-Streifen gezeichnet wurde. Sie wissen schon, diese kleinen grauen Männlein mit den riesigen insektenhaften Augen. Mit einer Körper-Geist-Seele-Einheit meine ich also immer eine Inkarnationsform. In unserem Notebook-Handy-Vergleich würden demnach die Grundtypen von Körper-Geist-Seele-Einheiten den vielen verschiedenen Typen von Handys entsprechen, die heutzutage in Benutzung sind. Wenn bei meinem Notebook eine Verbindung zum Internet hergestellt wird, ist dies beim Visualisierer eine Verbindung zum kosmischen Bewusstsein. Der Visualisierer erhält dort die notwendigen Grundinformationen um die spezielle Bewusstseinsmatrix zukünftig aus unendlich vielen anderen Schwingungsmustern heraus zu erkennen. Man könnte also sagen, der Visualisierer installiert den Treiber für die Bewusstseinsmatrix der Marke Mensch, Typ Max Mustermann. Sobald dies geschehen ist, stellt der Visualisierer eine permanente Verbindung zur Bewusstseinsmatrix von Max Mustermann her und ruft jeweils die Informationen ab, die für eine entsprechende Analyse benötigt werden.“
Stephan hielt kurz inne und fragte dann: „Soweit jetzt verstanden?“
Ihre Gesichtszüge wirkten zunächst angestrengt. Dann jedoch nickte sie kaum merklich.
„Gut! Dann lassen Sie uns anfangen. Bitte legen Sie eine Hand auf das Gerät!“
Julia sah ihn mit großen Augen an „Das verstehe ich jetzt nicht! Wenn sie mir bestimmte Episoden ihres früheren Lebens vorführen wollen, warum muss dann meine Bewusstseinsmatrix eingelesen werden?“
Sein Gesicht zeigte ein verständiges Lächeln. „Der Visualisierer benötigt die Schwingungssignatur ihrer Bewusstseinsmatrix um die von meiner Bewusstseinsmatrix vorhandenen Informationen jener Lebensepisoden, die ich Ihnen zeigen möchte, in ihrem Geist projizieren zu können! Keine Angst, nach der Vorführung können im Speicher des Visualisierers alle Signaturen ihrer Bewussteinsmatrix wieder gelöscht werden.“
Als sie das vernahm, nickte sie. „Dann können wir loslegen!“
Zeitblasen
Stephan rückte den Zylinder auf dem kleinen Couchtisch so zurecht, dass dessen Kreisflächen zu den Seiten zeigten und das Gerät genau im rechten Winkel vor ihm lag. Als er ihn so positioniert hatte, zog er seine Hände wieder zurück und schloss die Augen. Seine Gesichtszüge wirkten völlig entspannt. Es dauerte keine fünf Sekunden, da sah Julia, dass sich oberen Bereich der Mantelfläche des Visualisierers ein winziger Spalt öffnete.
Sie dachte: Wie kann das sein? Das Ding ist doch massiv, wie aus einem Guss.
Plötzlich schoss ein heller blauer Lichtstrahl aus der Öffnung, der über dem Zylinder ein merkwürdiges holografisches Objekt erzeugte. Julia erkannte darin eine geometrische Figur. Sie überlegte, wie sie hieß. Dann fiel ihr die Bezeichnung ein: Tetraeder. In der Projektion schwebten dutzende blau leuchtende Symbole und Schriftzeichen, die von halbtransparenten Kugeln umschlossen wurden, welche wiederum durch blau strahlende Linien miteinander verbunden waren. All die Kugeln und Linien bildeten ein kompliziertes geometrisches Muster. Jeweils sechs Kugeln verbanden sich zu einem kleinen Tetraeder. Diese kleinen Tetraeder alle zusammen bildeten ein großes Tetraeder. Das Hologramm, das von dem Zylinder in den Raum über dem Tisch projiziert wurde, offenbarte keinerlei Unregelmäßigkeiten. Starr vor Überraschung standen in Julias Augen tausend Fragezeichen. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Dieses Ding war eindeutig nicht von dieser Welt. Verwirrt blickte sie zu Stephan, dessen Augen noch immer geschlossen waren. Unvermittelt veränderte sich etwas. Staunend bemerkte sie, dass in dem Hologramm nacheinander einige der Kugeln violett aufleuchteten und die blauen Linien, die sie verbanden, ihre Farbe in ein helles Violett wandelten. Nun zeichnete sich in der Holografie deutlich ein violett leuchtender Bereich ab.
„Führe deine rechte Hand in den violetten Bereich der Projektion!“, sagte Stephan, der seine Augen wieder geöffnet hatte.
Julia sah ihn fragend an: „Das ist aber etwas anderes als nur die Hand auf den Zylinder zu legen! Was passiert da mit mir?“
Stephan fixierte sie schweigend für einen kurzen Moment. Dann sagte er: „Oh sorry! Die Bezeichnung Handauflegen ist eine wohl nicht ganz passende Metapher. Sie entstammt dem Vorgang des Einlesens von Patienten in Analyse- und Therapiesysteme der Energiemedizin, welche heutzutage eingesetzt werden. Da gibt es zum Beispiel ein System, das sich Timewaver nennt. Ein durchaus sehr gutes und weit entwickeltes Gerät, mit dem der Therapeut genaueste energetische Analysen durchführen kann und das alle irgendwie gearteten Befindlichkeitsstörungen im physischen Körper oder im mentalen Bereich eines Menschen erkennt. Mit so einem Gerät hatte ich auch mal gearbeitet. Dort musste man zum Einlesen der Informationsfelder tatsächlich die Hand auf das System legen. Nun habe ich aber diesen Visualisierer, der im Grunde genommen dieselben Funktionen wie der Timewaver hat. Mein Gerät basiert aber im Unterschied zum Timewaver auf einer völlig anderen Technologie. Mit dieser Technologie kann man unter anderem Einblicke in die Bewusstseinsmatrix jeder Körper-Geist-Seele-Einheit erhalten. Um nun jedoch auf Ihre Frage zurückzukommen, was da mit Ihnen passieren würde: Nichts weiter als ich vorhin bereits gesagt hatte; der Visualisierer erfasst die Schwingungssignatur ihrer Bewusstseinsmatrix, um sie mit dem Gerät zu verkoppeln. Dabei bleibt ihr Körper völlig unangetastet, denn anders als zum Beispiel beim Röntgen, wird beim Einlesen durch den Visualisierer keinerlei Strahlung verwendet.“
Während Stephan sprach, starrte sie unentwegt und mehr und mehr fasziniert auf das über dem Tisch schwebende Hologramm. In ihren Augen spiegelten sich die Linien der blauen und violetten Tetraeder. „Wow … Das ist wirklich beeindruckend! Wo haben Sie das her?“
„Das zu erklären, würde ich gerne auf nachher verschieben! Sie sollten das Gerät erst in Aktion erleben. Können wir anfangen?“
Julia nickte kurz und hob ihren rechten Arm langsam in Richtung des Hologramms. Dort wo die violettfarbenen Linien und Kugeln die Markierung setzten schob sie ihre Hand langsam in das Hologramm. An den Stellen, wo das violette Licht der Projektion ihre Haut berührte, verspürte sie ein leichtes Prickeln. Als sie den Arm bis zum Ellenbogen in das Lichtspiel geschoben hatte, änderte sich die Farbe des gesamten Gebildes in ein leuchtendes Türkis.
„Okay, Sie können den Arm jetzt wieder herausziehen.“, sagte Stephan.
„War das etwa schon alles?“, fragte Julia und in ihrer Stimme klang ein wenig Enttäuschung mit.
Stephan nickte. „Sie sind nun mit dem System verkoppelt!“
Unvermittelt erlosch das Hologramm und der schmale Schlitz im Zylinder schloss sich wieder.
Noch immer fasziniert starrte sie auf das Ding. Es wirkte daher eher beiläufig, als sie sagte: „Stephan, noch eine Frage! Mir ist aufgefallen, dass Sie den Zylinder, als er dieses Wahnsinnshologramm in den Raum zauberte, es nicht ein einziges Mal berührt hatten! Wie bedienen Sie dieses Ding?“
Wissend lächelte er, als er sagte: „Ausschließlich mit meinen Gedanken! Wie Sie bald bemerken werden, projiziert der Visualisierer nicht nur Bilder in die materielle Welt. Dieser Effekt ist eher nebensächlich und er wird eigentlich nur angewandt, um die Probanden einzulesen. Der Rest läuft ausschließlich auf der geistigen Ebene ab. Aber ich möchte Sie nun wirklich nicht noch mehr verwirren!“
„Entschuldigen Sie! Ich wollte Sie mit meiner Fragerei nicht aus dem Konzept bringen. Alles was ich hier mit Ihnen bisher erleben durfte, war irgendwie faszinierend. Es ist, als hätte sich in meinem Inneren eine Tür geöffnet. Ich kann dieses Gefühl nicht anders beschreiben.“
Stephan bedachte Sie mit einem verständnisvollen Lächeln. „Das ist völlig Ordnung. Darum sind Sie hier!“
Als sie diese Antwort vernahm, die wieder einmal nur eine Andeutung enthielt, überlegte Julia, was er damit meinte. Ihre innere Stimme sagte ihr, dass sich das alles noch klären würde und sie einfach noch etwas Geduld haben müsse. Sie stieß vernehmbar Luft aus, was so etwas wie Entschlossenheit anzeigte und sagte: „Lassen Sie uns loslegen! Ich kann Sie ja auch nachher noch mit meinen Fragen löchern!“
„Gut! Nun machen Sie es sich auf der Couch bequem. Sie können sich ruhig lang machen.“
Auf Grund dieser Aufforderung grübelte sie darüber nach, dass sie ihm während der Zeit ihrer Verkoppelung mit dem System völlig ausgeliefert wäre. Ihre Intuition sagte ihr jedoch, dass sie ihm blind vertrauen konnte. Und so zog sie sich die Pumps von den Füßen und streckte sich auf der Couch aus.
Inzwischen hatte es sich Stephan auf dem Sessel ebenfalls bequem gemacht und die Beine zu einem Lotussitz verknotet. Leise sagte er: „Schließen Sie die Augen!“
***
Zunächst war da nur Dunkelheit. Obwohl ihr noch bewusst war, dass sie auf der Couch in Stephans Hotelzimmer lag, verspürte sie eine merkwürdige Weite in dieser Schwärze. Es war aber nicht so, wie es sich sonst anfühlte, wenn man sich entspannte und die Augen schloss. Da war irgendwie mehr. Langsam, geradezu übergangslos, wurden ihre Gedanken von einer geistigen Präsenz überlagert, die sie nicht zu deuten vermochte. Es war ein eigenartiges Gefühl, irgendwie fremd und trotzdem vertraut. Plötzlich war da ein hohes, kaum wahrnehmbares Piepen in ihren Ohren, begleitet von eigenartigen Reizen, die ihren Körper an den unterschiedlichsten Stellen erfassten. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln spannten und ihr eine geheimnisvolle, markante Kraft zufloss. Zugleich bemerkte sie, dass jegliches Gefühl aus ihrem Körper zu entgleiten schien. Sie konnte es nicht stoppen. Ihr Körper war nicht mehr unter ihrer Kontrolle.
Unvermittelt zeigte sich in der dunklen Schwärze ein Licht, das zuerst nur klein war aber schnell größer wurde. Jetzt bemerkte sie, dass es auf sie zukam. Plötzlich explodierte es in ihrem Bewusstsein, als ob sie einen kurzen Augenblick in das Blitzlicht einer Kamera geschaut hätte. So, wie man nach einer kurzzeitigen Blendung sein Sehvermögen wieder zurückerhält, klärte sich nun das Bild und Julia hätte es den Atem verschlagen, wenn sie noch völlig sie selbst gewesen wäre. Aber das war sie nicht. Langsam erfasste sie die Situation. Sie konnte es nicht steuern, denn der Körper in dem ihr Geist nun steckte, war nicht ihrer. Es war Stephan. Es waren seine Augen, mit der sie sah, was er sah. Es waren seine Ohren, mit der sie hörte, was er hörte. Aber nicht nur das, war es, was sie zutiefst verwirrte. Sie vernahm seine Gedanken, spürte seinen Unmut, nahm seine Sichtweise wahr. Er saß an einem langen Tisch in einem Gerichtssaal. Sie brauchte sich nicht umzuschauen, was sie in diesem Moment aus eigenem Willen ohnehin nicht vermocht hätte; ihr war bewusst, wo sie sich befand; Sitzungssaal 2 im Amtsgericht Saalthal. Das alles hier war so real, dass sie es nicht fassen konnte. Sie konnte sogar diesen merkwürdig abgestandenen Geruch von alten Möbeln und Bohnerwachs wahrnehmen, wie er in älteren Verwaltungsgebäuden oder Museen so typisch war. Sie, die nun zugleich er war, starrte zum gegenüberliegenden Tisch an dem ein hagerer Mann mit einer Halbglatze saß, der mit einer schwarzen Robe bekleidet war. Sie musste nicht ergründen, wer das war, sie wusste es einfach. Das war Rechtsanwalt Dr. Graumann mit dem er hier des Öfteren gesessen und die juristischen Klingen gekreuzt hatte. Das Auftreten des Mannes war penetrant aggressiv und man konnte dem stechenden Blick seiner wässrig blauen Augen kaum standhalten. Neben Dr. Graumann saß ein großer korpulenter Mann, dessen Haare auf Millimeterlänge kurz geschnitten waren. Sein karierter Anzug mochte nicht so recht zu ihm passen und dessen bunte Krawatte schon gar nicht zu dem Anzug. Schweißperlen standen auf der Stirn des Fleischklopses. Der Typ war Dr. Graumanns Mandant, Viktor Müller, ein windiger Gebrauchtwagenhändler, der Stephans Klienten einen schrottreifen Toyota Carina E für den völlig überzogenen Preis von 8.500 Deutschen Mark verkauft hatte. Stephans Mandant war Patrick Gehlhard, ein zweiundzwanzig Jahre alter Medizinstudent, der das Geld für den Autokauf von seiner Oma geschenkt bekommen hatte und keine zwei Wochen nach dem Autokauf mit der Schrottkarre auf der Autobahn liegen geblieben war. Der Mann vom Pannendienst hatte die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen und ihm ziemlich deutlich gemacht, dass das Auto ein Unfallwagen war, der in die Schrottpresse und keinesfalls auf die Straße gehörte.
Sie, die nun zugleich er war, vernahm Dr. Graumanns unangenehm schneidende Stimme: „Herr Vorsitzender, wie sich erwiesen haben dürfte, hat der Zeuge des Klägers die Unwahrheit gesagt. Nach den Aussagen der von der Beklagtenseite benannten Zeugen Fuchs und Petrovski dürfte feststehen, dass der Kläger vom Beklagten bei den Kaufverhandlungen über den streitgegenständlichen Wagen alles erfahren hat, was über den Zustand desselben zu sagen war. Demnach war dem Kläger bekannt, dass es sich um einen Unfallwagen handelte. Dass er ihn gleichwohl unbedingt haben wollte, weil ihm das Modell so gut gefiel und beim Beklagten kein zweites Fahrzeug dieser Baureihe zur Verfügung stand, war dann seine eigene Entscheidung. Im Übrigen erinnere ich an die Regelung unter Ziffer 10 des Kaufvertrages vom 23. Februar 2000, wonach der Kaufgegenstand wie besichtigt gekauft wird und alle Gewährleistungsansprüche aus etwa verdeckten Mängeln ausgeschlossen sind. Der Kläger hat den Vertrag so unterschrieben und Verträge sind bekanntlich einzuhalten.“
Sie bemerkte, wie in Stephan die Wut aufstieg. Er setzte zum Sprechen an und sie spürte, wie er den Mund öffnete. „Herr Vorsitzender, das ist ja wohl der Gipfel der Unverfrorenheit, was da die Gegenseite vorträgt. Nach den Aussagen des Zeugen Lehmann, der meinen Mandanten bei dem Autokauf begleitet hatte, war die Zeugen Fuchs und Petrovski bei den Kaufverhandlungen gar nicht zugegen. Es ist nicht zu fassen, dass hier vor Gericht so unverfroren gelogen wird!“
Während er das sagte, wanderte sein Blick zum Richter, der hinter seiner langen Richterbank aus massivem Eichenholz saß, welche auf einem Podium stand. Der Richter hieß Friedrich Eisner. Mit seinem schlohweißen vollen Haar und dem ordentlich getrimmten Vollbart bot er eine geradezu autoritäre Erscheinung. Seine vielen Falten zeugten von den unzähligen Streitereien, die er zeitlebens in den Gerichtssälen hatte schlichten müssen. Adlergleich schwankte sein fester Blick zwischen den Bänken der Streitparteien hin und her und seine Gesichtszüge waren dabei völlig undeutbar. Einige Sekunden herrschte eine solche Stille im Raume, dass man die Luft schneiden konnte.
Unvermittelt knallte der Richter seine geballte Faust auf den Tisch und donnerte mit seiner tiefen, kräftigen Stimme in den Saal: „Das ist ein Possenspiel sonders gleichen meine Herren! Es ist gemeinhin bekannt, dass vor Gericht gelogen und betrogen wird, dass sich die Balken biegen. Aber nicht in meinem Gerichtssaal. So etwas dulde ich einfach nicht. Irgendjemand hat hier soeben die Unwahrheit gesagt. Und da die Zeugen auf Ihren Antrag hin vereidigt wurden, hat von diesen auch jemand einen Meineid geschworen. Wie sie wissen, wird das in jedem Falle mit einer Freiheitsstrafe geahndet. Ich werde die Sache dem Staatsanwalt übergeben, sobald ich mit diesem Verfahren fertig bin. Vorher werde ich mein Urteil fällen. Beschlossen und verkündet, Termin zur Verkündung einer Entscheidung wird anberaumt auf den 24. Juni, 14.00 Uhr, Saal 2. Die Verhandlung ist geschlossen!“
Als er das vernahm, stürzten tiefe Zweifel auf Stephan ein. Sie spürte, dass ihm unwohl war. Nicht allein! Auch ihr war unwohl. Seine Gedanken überschlugen sich. War es richtig, dass ich die Zeugen Fuchs und Petrovski habe vereidigen lassen? Nur deshalb hat Dr. Graumann ja auch meinen Zeugen vereidigen lassen. Wer hat nun gelogen? Muss nun einer der Zeugen wegen meiner Unzulänglichkeit ins Gefängnis?
Plötzlich war da ein stechender Schmerz in seiner Brust, der ihm den Atem nahm. Er rang nach Luft und kippte vom Stuhl zur Seite. Die Perspektive die so zugleich auf ihr Bewusstsein einstürzte, war eigenartig. Sie spürte wie ihr Geist, nein eigentlich sein Geist, aus seinem Körper katapultiert wurde. Sie sah die Szene nun von oben. Es war, als würde sie an der Decke des Gerichtssaales kleben. Mit gekrümmtem Oberkörper lag Stephan nun hinter der Klägerbank neben dem Stuhl, auf dem er soeben noch gesessen hatte. Aller Schmerz war in dem Moment verflogen, als sein Geist den Körper verlassen hatte. Ein eigenartiges Gefühl stieg in ihr hoch. War das da unten Stephan? Er sah so anders aus! Der Stephan, den sie kennen gelernt hatte, war schlank und wirkte stets agil. Der Körper da unten war deutlich fülliger. Sein Gesicht war von roten Flecken gezeichnet und wirkte irgendwie krank. Als sie die Szenerie unter sich beobachtete, bemerkte sie, dass ihre Sinne das Geschehen viel deutlicher wahrnahmen. Es war, als wäre ein Schleier von ihr genommen worden, der ihre bisherige Sicht eingeschränkt hatte. Sie sah, wie sich Patrick Gelhard hektisch daran machte, die Stühle zur Seite zu schieben und sich neben Stephans leblosen Körper kniete. Er führte die Hand in Richtung des Halses und fühlte den Puls.
Kurz darauf rief er in Richtung der Richterbank: „Wir brauchen sofort einen Krankenwagen! Sein Puls ist unregelmäßig und kaum noch zu spüren! Vermutlich hat er einen Herzinfarkt! Hat jemand ein Handy dabei?“
Der Richter schüttelte den Kopf. „Das bringt hier nichts! Kein Empfang!“
Die Protokollantin, eine ebenfalls mit einer schwarzen Robe bekleidete schlanke, hübsche junge Frau mit schulterlangen blonden Haaren, die eben noch an der Seite der Richterbank auf einem Stuhl vor ihrem Computer gesessen und behände in die Tasten gehauen hatte, war erschrocken aufgesprungen und schaute betreten zum Richter. Es schien, als wisse sie nicht, wie sie reagieren solle.
Unwirsch blickte der sie an und rief: „Nun laufen Sie schon und rufen Sie den Notarzt!“
Mit eiligen Schritten schoss die junge Frau davon.
Julia nahm noch wahr, dass Stephans Mandant ihn unter den Achseln anpackte, seinen Oberkörper hochzog und gegen die Wand lehnte, dann trieb es sie von diesem Ort fort. Sie hörte ein Geräusch, das wie ein aus weiter Ferne kommendes Glockenläuten klang. Gleichzeitig mit dem Auftreten des Geräusches hatte sie das Gefühl, als ob sie sehr rasch durch einen dunklen Tunnel gezogen würde. Es kam ihr dabei so vor, als würde sie in einem Vergnügungspark Achterbahn fahren. Zuerst war der Tunnel nur in ein diffuses Licht getaucht und sie konnte nicht erkennen, wo sein Ende war. Dann jedoch erkannte sie ein Licht. Es war erst nur ein winziger Punkt. Wegen der irrwitzigen Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegte, wurde er aber sehr schnell größer und sie sah, dass es das Ende des Tunnels war und dass das Licht von einem Wesen ausging, das dort auf sie wartete. Nun ja, eigentlich wartete es ja auf Stephans Geist. Erneut wurde ihr bewusst, dass die Projektion so real war, dass man glauben konnte, dass dieses Erlebnis das eigene wäre. Es war jedoch nur ein kurzer Gedanke, denn sofort zogen sie die Geschehnisse wieder in ihren Bann. Nun befand sie sich unmittelbar vor dem Wesen. Die Leuchtkraft seines Strahlens war mit nichts vergleichbar, was sie je gesehen hatte. Trotz seiner unbeschreiblichen Helligkeit blendete dieses Licht nicht. Ungeachtet seiner ungewöhnlichen Erscheinungsform hatte sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass diesem Lichtwesen ein eigenes Bewusstsein innewohnte. Eine unbeschreibliche, alles durchdringende Liebe und Wärme strömte Stephan und zugleich ihr von diesem Wesen zu. Sie fühlte sich davon vollkommen umschlossen und ganz darin aufgenommen und so empfand sie das Wesen als eine Art Engel, der in diese unfassbare Liebe aus Licht gehüllt war. Es war dieses vollkommene Gefühl von Geborgenheit und Bejahung, das auf sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübte. Nun spürte sie, dass der Lichtengel mit Stephans Geist Verbindung aufnahm und einen Gedanken an ihn richtete, der als Frage in sein Bewusstsein eindrang. Was hast du mit deinem Leben angefangen, was bestehen kann, damit du hier bleiben darfst?
Dies war keine Kommunikation wie sie sie im Zustand der Körperlichkeit gewohnt war, sondern eine direkte, ungehinderte Gedankenübertragung und zwar auf eine so klare Art, dass es keine Missverständnisse geben konnte. Und so wusste sie, dass die Frage von dem Wesen keinesfalls anklagend oder vorwurfsvoll gestellt worden war. Sie spürte sofort, dass Sinn der Frage vielmehr darin zu liegen schien, Stephan anzuregen, sein Leben offen und ehrlich zu durchdenken und ihm zu helfen, selbst auf dem Weg der Wahrheit voranzuschreiten. Da sie die Frage nicht beantworten konnte, da sie ja an ihn gestellt worden war, achtete sie nun darauf, was in seinem Bewusstsein vorging. So entging ihr nicht, dass Stephan sofort nach dem tieferen Sinn der Frage suchte, um dem Lichtwesen eine Antwort zu geben, die ihm gefallen könnte. Augenblicklich flog ihm ein Gedanke des Wesens zu, den man nur als eine Art energetisches Kopfschütteln beschreiben konnte. Sofort erkannte Julia, dass es dem Lichtengel keineswegs darauf ankam, dass der Befragte eine gefällige Antwort gab, sondern darauf, dass das Gesagte aus einer tiefen Selbsterkenntnis hervortreten sollte.
Und so stellte der Lichtengel ohne den geringsten Ansatz von Strenge klar, dass er weder Lehrer noch Richter war, als er sagte: Es ist dein Leben! Du allein hast alles bestimmt! Lass uns schauen, wie du es selbst siehst!
Abrupt wurde eine Szene von bestürzender Eindringlichkeit eingeleitet, welche Julia wohl nie wieder vergessen würde. Sich überhaupt vorstellen zu wollen, dass so etwas möglich sei, hätte sie wohl im körperlichen Zustand wahnsinnig werden lassen. Aber im rein geistigen Zustand war dies anders.
Der Lichtengel initiierte nun einen Prozess, bei dem er das bisherige Leben Stephans in einer Art von Erinnerungsbildern vor ihm ausbreitete. Das Ganze lief mit blitzartiger Geschwindigkeit ab indem alle Geschehnisse gleichzeitig erschienen und mit einem Blick des geistigen Auges erfasst wurden. Gemessen an irdischer Zeit war die Vorführung in einem einzigen Augenblick vorüber. Gleichwohl erlebte Julia diese Rückschau auf Stephans Leben in allen mannigfaltigen Facetten, indem jede einzelne Lebensepisode vorgeführt wurde. Von den geringfügigsten bis zu den bedeutsamsten Handlungen enthielt die Rückschau alles, was er je in seinem Leben getan hatte. So begann das Lebenspanorama bei jenem Augenblick, als er aus dem Mutterleib gepresst wurde und endete bei jener Szene im Gerichtssaal, als er zusammengebrochen war. Merkwürdigerweise sah sie das alles nicht mit Stefans Augen, sondern aus der Perspektive eines imaginären Beobachters. Es schien gerade so, als sei in Stephans Leben stets eine holografische Kamera mitgelaufen, die nicht nur die jeweiligen audiovisuellen Eindrücke einer Situation aufgezeichnet hatte, sondern auch die Emotionen aller beteiligten Menschen. Daher sah sie in seinem Lebenspanorama nicht nur jede einzelne Handlung, die Stephan je in seinem Leben ausgeführt hatte, sondern nahm auch unmittelbar die Folgen wahr, die jede Handlung auf die Beteiligten hatte. Als sie zum Beispiel sah, wie Stephan als kleiner Junge seinem jüngeren Bruder Ralph ein Spielzeugauto wegnahm, weil er selbst damit spielen wollte und wie er in diesem Moment die Macht des Älteren und Stärkeren ausspielte, nahm sie sofort das Bewusstsein des kleinen Bruders an; fühlte seine Traurigkeit, seine Kränkung und seinen Schmerz. Wie Blasen aus lebendigen Bildern stürzten solche Augenblicke auf ihr Bewusstsein ein und offerierten ihr ein an und für sich fremdes Leben, das ihr doch gleichzeitig so vertraut wurde. Und so erlebte sie unter anderem jene schönen Momente, in denen Stephan als Sechsjähriger mit seinem Opa durch die Wälder streifte und der alte Mann ihm eine tiefe Verbundenheit zur Natur vermittelte; fühlte aber auch jenen Augenblick tiefster Trauer und Enttäuschung nach, als der Großvater in einem Anfall von Zorn seinen Jagdhund im Wald an einen Baum band und ihn erschoss, weil das Tier alle Hühner auf Nachbars Grundstück totgebissen hatte. Wie dieses Erlebnis, gab es in Stephans Leben noch so viele weitere, die ein breites Spektrum von Reaktionen hervorriefen, welche letztlich aber seine Persönlichkeit prägten. Er war ein gutmütiger offenherziger Mann. Und weil er so war, tappte er in die Falle. Julia sah, wie Stephan während seines Studiums eine Frau namens Birgit kennen lernte, erlebte, wie sie ihn nach und nach ihrem Willen unterwarf. Sie war eine schöne Frau, sehr attraktiv, aber Julia sah sofort, dass in ihren Augen keine Liebe war. Für Stephan war diese Beziehung zu Birgit eine Achterbahnfahrt und wandelte sich schnell vom Hochgefühl zur Frustration. Irgendwann wollte er sich trennen, weil er ihre ewigen Bevormundungen satt hatte. Doch zu einer Trennung kam es nie. Als Birgit auf dem Sims jener hohen Autobrücke über dem Albers stand und Stephan drohte, sie werde springen, ließ er sich von ihrer Erpressung beeindrucken. Die Distanz bis zur Wasseroberfläche hatte etwas Bedrohliches an sich. In diesem Moment spürte Julia Stephans Zweifel; konnte seinen inneren Kampf nachempfinden. Er hatte sich irgendwie aufgegeben, schwebte in der Illusion, dass er diese Frau vielleicht lieben könnte. Und so kam es, dass er sich entschuldigte und sie über das Brückgeländer zurück auf den Fußweg kletterte.
Wenig später heirateten sie. Nach Außen hatte die Ehe einen geradezu perfiden Anschein von Perfektion, dessen Inszenierung seine Frau perfekt beherrschte. Er suchte Abstand im Berufsleben und wurde durch seinen Fleiß und seine Beharrlichkeit zum erfolgreichen Anwalt. So weit es eben ging, entzog er sich durch Abwesenheit, vergrub sich in seine Arbeit und verfluchte bald sogar die Freitage, weil er die Wochenenden mit ihrer programmierten Familienharmonie nicht mehr ertragen konnte. Als jedoch seine Tochter Clara geboren wurde, blühte er förmlich auf. Sie war sein kleiner blonder Sonnenschein, nahm ihn so, wie er war und er liebte sie über alles. Die Kleine wuchs heran, lernte krabbeln, sprechen, laufen und das waren schöne Zeiten für ihn. An der Trostlosigkeit seiner Ehe änderte sich jedoch wenig. Obwohl er öfters über eine Scheidung nachdachte, scheute er sich davor, Clara seiner Frau allein zu überlassen, so lange sie noch so klein war. So verwarf er all die Gedanken an eine Trennung und ergab sich seiner selbst gewählten Perspektivlosigkeit. Clara wurde älter und irgendwann fiel ihm auf, dass sie mehr und mehr Charakterzüge seiner Frau annahm. Irgendwie wollte er gegensteuern, jedoch fehlte ihm die Zeit dazu. Zu selten war er zu dann Hause, wenn Clara nicht gerade schlief oder in der Schule war. Was ihren Lebensstil betraf, wurde seine Frau immer anspruchsvoller. Sie genoss es geradezu, Unsummen an Geld für teure Kleidung, luxuriöse Urlaubsreisen sowie exklusive Möbel und Accessoires auszugeben. Und weil der Rubel rollen musste, verbrachte er die meiste Zeit in seiner Kanzlei obwohl ihm sein Job schon lange keine Befriedigung mehr brachte. Gleichwohl er so viel Geld verdiente, er sich über die Anzahl lukrativer Aufträge nicht beklagen konnte, war es nicht das, was er eigentlich tun wollte. Irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen. Die Mandanten, die auf ihn einen immer währenden Erwartungsdruck ausübten, brannten ihn aus. Die ständigen Auseinandersetzungen in den Gerichtsverfahren machten ihn müde. Und so veränderte er sich; wurde mehr und mehr zu einem gebeugten Mann. Dann jedoch kam jener Tag, als er im Gerichtssaal vom Stuhl kippte.
Damit hatte die Rückschau ein jähes Ende gefunden. Nun fragte der Lichtengel: Was ist für dich das Wichtigste im Leben?
Julia spürte, dass Stephan zwar noch unter dem Eindruck jener Retrospektive auf sein Leben stand, jedoch all die Ereignisse nun in einem größeren Zusammenhang einzuordnen vermochte. Unversehens drang ein Gedanke aus seinem Bewusstsein, den er geradezu euphorisch hervorbrachte und gar nicht erst abzuwägen versuchte. Die Liebe!
Sofort stimmte das Wesen freudig zu und es schien, als habe Stephan durch seine aufrichtige Antwort eine wichtige Prüfung bestanden. Er war einfach nur noch glücklich und wollte die Nähe des Wesens nie mehr missen. Und so kam es für Stephan völlig überraschend, als das Licht sagte: Nun musst du wieder zurück in dein Leben! Du hast noch eine Aufgabe zu erledigen!
Diese Ankündigung versetzte Stephan in eine tiefe Niedergeschlagenheit. Nein, bitte lass mich hier!, rief er dem Wesen verzweifelt zu.
Ehe er noch eine Antwort empfangen konnte, wurde er mit überirdischer Kraft in den Tunnel gezogen. Das Licht schwand eben so schnell wie es gekommen war und verging schließlich als Punkt in der unendlichen Schwärze des Nichts.
Metamorphose
Es war ein Erwachen wie aus einem traumlosen Erschöpfungsschlaf. Die ersten Momente wirkten bleiern. Julia registrierte, dass sich Stephan kaum bewegen konnte. Seine Reflexe waren wie eingefroren. Ein Piepen erreichte sein Bewusstsein. Es hatte einen gewissen Rhythmus und irgendwie schien es synchron mit diesem Pochen zu sein, das in seiner Brust schlug.
Piep … Piep … Piep … Piep …
Dann schlug er die Augen auf und sie nahm ein weißes, unangenehmes Licht wahr, das ihm in den Augen brannte. Es war ein anderes Licht, gar nicht mit dem zu vergleichen, was er eben noch gesehen hatte. Das andere war heller, intensiver, aber es war schön und voller Liebe. Diese Helligkeit hier … einfach nur brutal. Er schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder. Ein Wimpernschlag, eine Ewigkeit.
Die Konturen kamen zurück und die grauen Schatten nahmen Gestalt an. Julia vernahm ein verzerrtes Gewisper. Es war undeutliches Kauderwelsch, das aus einem Mund drang, der sich in einem Gesicht bewegte, welches direkt über Stephan war. Fremde Augen blickten ihn an. In ihnen war Erleichterung zu erkennen.
Langsam dämmerte es ihm und Julia vernahm seine Gedanken.
Hat das etwas mit mir zu tun? Verdammt! Ich sollte nicht hier sein! Warum hat es das getan?
Julia konnte es kaum glauben. Gleichwohl er so schwach war, war er wütend. Nein, das war es nicht ganz. Zu dieser Wut kam noch ein Gefühl von tiefer Verletztheit. Eine Verletztheit, die darauf beruhte, dass er zurückgeschickt worden war.
Das Kauderwelsch wurde deutlicher. „Herr Reichenbach können Sie verstehen, was ich sage? Wenn ja, dann heben sie kurz ihren linken Arm.“
Das Gesicht, das zu einem Mann gehörte, schaute ihn nun prüfend an und eine Hand fuchtelte vor seiner Nase herum. Dann leuchtete er ihm mit Etwas direkt in sein rechtes Auge.
Hey … ich will das nicht!
„Hallo Herr Reichenbach, ich bin Dr. Klausen. Können Sie mich hören?“
Mann, das nervt!
Dann hob er seinen Arm, aber nur, damit das Gesicht endlich die Klappe hielt und damit aufhörte, ihn mit dieser grässlichen Funzel zu blenden.
Das Gesicht schaltete die Lampe aus und sagte: „Sehr schön … aber bitte nicht sprechen, Sie sind noch viel zu schwach!“
Das weiß ich selbst! Lass mich einfach nur in Ruhe!, dachte Stephan.
Das Gesicht verschwand aus seinem Blickfeld. Stefan schloss die Augen und ergab sich dem Drang, zu schlafen.
Unversehens nahm Julia einen grellen Blitz wahr, der einen Sekundenbruchteil ein blendend weißes Licht generierte. Offenbar war es so was wie ein Kontrollsignal.
Sie dachte: Interessant! Ich werde später Stephan danach fragen!
Tatsächlich wäre sie beinahe der gefühlten Müdigkeit gefolgt und eingeschlafen. Nun aber war sie wieder hellwach und harrte der Dinge.
Als er wieder die Augen öffnete, war das Zimmer in diffuses Licht getaucht. Das helle Deckenlicht war ausgeschaltet, was seinen Augen gut tat. Er bewegte seinen rechten Arm und bemerkte, dass ein durchsichtiger Schlauch aus seinem Handrücken ragte, welcher mit einem Wust von Pflastern so fest fixiert worden war, dass er seine Hand kaum bewegen konnte. Er versuchte, den Kopf zu heben, was ihm noch schwer fiel. Irgendetwas rührte sich neben seinem Bett.
Er vernahm eine Stimme, aus der so etwas wie freudige Überraschung hervorschwang. „Oh Schatz, Gott sei Dank bist du endlich aufgewacht! Wir haben uns alle schon solche Sorgen gemacht!“
Nun beugte sich ein Gesicht über ihn, in dessen Mimik eine Mischung aus Besorgnis und Erleichterung stand. Irgendwie unecht, dachte Julia, als sie diese Augen sah, die Stephan nun eindringlich musterten. Sofort fühlte sie, dass sich alles in ihm aufbäumte. Es war Birgit. Sie war die Allerletzte, die er jetzt sehen wollte.
„Lass mich in Ruhe!“, sagte er mit kraftloser Stimme.
Von dieser Antwort überrascht, sagte sie konsterniert: „Aber Schatz, erkennst du mich denn nicht!“
Ihre bloße Anwesenheit ließen seine Emotionen hochkochen. Julia spürte, wie sich der Takt seines Herzschlages zu einem wilden Galopp beschleunigte.
Mit erregter Stimme sagte er: „Oh doch Birgit! Ich möchte, dass du verschwindest! Ich sollte gar nicht hier sein! Ich war bereits an einem besseren Ort und konnte zum ersten Mal erleben, was es heißt, geliebt zu werden. Du weißt doch gar nicht, was das bedeutet! Lass mich in einfach nur in Ruhe!“
Das Gerät hinter Stefans Bett begann wie wild zu piepen. Nur wenige Sekunden später kam eine Schwester in azurblauer Montur ins Zimmer gestürzt. Sie überblickte die Situation sofort, hantierte hastig an einem Apparat, der jedes Drücken mit einem Piep quittierte. Scheinbar hatte sie an einer der Infusionspumpen eine Medikamentendosis in Gang gesetzt, denn Stephan spürte, wie das Mittel in seine Vene schoss.
Die Schwester warf Stephans Frau einem kurzen, vorwurfsvollen Blick zu, widmete dann ihre ganze Aufmerksamkeit aber sofort wieder dem Monitor. Langsam verlor das Piepen seinen hektischen Rhythmus und wurde wieder gleichmäßig.
„Was war hier los?“, fragte die Schwester und wandte sich nun zu der Besucherin um.
Erstaunt blickte Birgit sie an: „Was soll das heißen? Und überhaupt verbitte ich mir diesen Ton! Mein Mann ist gerade aufgewacht. Er erkennt mich offenbar nicht mehr, denn er benimmt sich so komisch!“
Langsam wurde Stephan von der Wirkung des Medikaments eingelullt, dass ihn die Müdigkeit zu übermannen begann. Innerlich bäumte er sich dagegen auf und versuchte, seinen Kopf zu heben. Mit angestrengter, leiser Stimme sagte er: „Schwester! Bitte …“
Als die Krankenschwester dies vernahm, wandte sie sich augenblicklich dem Patienten zu und beugte sich zu ihm herab. Mit leiser fürsorglicher Stimme fragte sie: „Ja Herr Reichenbach, was wollen Sie mir sagen?“
„Bitte schicken Sie diese Frau weg! Ich möchte sie nicht mehr sehen! Mein Bruder Ralph soll kommen!“
Als die Schwester ihn nun aufmerksam anschaute und seine Bitte mit einem kaum merklichen Kopfnicken bedachte, spiegelte sich in ihren Gesichtszügen Verständnis wieder. „Herr Reichenbach, bitte sagen sie mir nur noch, ob sie diese Frau kennen!“
Gerade noch so laut, dass es die Krankenschwester verstehen konnte, antwortete Stephan mit tonloser Stimme: „Sie ist meine Ehefrau! Ich möchte sie hier nicht mehr sehen!“
Statt einer Antwort tätschelte die Schwester kurz Stephans Hand, richtete sich auf und wandte sich wieder der Besucherin zu. „Offenbar weiß der Patient sehr wohl, wer sie sind! Allerdings hat er mir gerade unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ihr Besuch unerwünscht ist. Da in unserer Klinik der Patientenwille oberste Priorität hat und ihre Anwesenheit, wie ich eben bemerken musste, der Genesung des Patienten entgegensteht, möchte ich Sie bitten, dass sie die ITS sofort verlassen!“
Als Stephan dies vernahm, spürte Julia so etwas wie Erleichterung. Das empörte Aufbegehren seiner Frau bekam er nur noch schwach am Rande seines abdriftenden Bewusstseins mit. Es berührte ihn auch nicht mehr im Geringsten. Und so ließ seine innere Anspannung augenblicklich nach und er ergab sich seiner übermächtigen Müdigkeit.
Das plötzliche Blitzlicht tauchte die Szene in ein grelles Licht. Langsam nahm Julias Wahrnehmung wieder Konturen an. Sie konnte nicht einschätzen, wie der groß Zeitsprung gewesen und wie viele Stunden oder Tage vergangen sein mochten, aber sie fühlte nun, dass es Stephan deutlich besser ging. Sie bemerkte es auch daran, dass er nun halb aufrecht im Bett saß. Das Oberteil des Bettes war hochgefahren, so dass er sich bequem anlehnen konnte. Außerdem piepte es hinter ihm nicht mehr, woraus Julia schloss, dass er sich nicht mehr auf der Intensivstation befand. Stephan las in einen Schriftstück, dessen Überschrift Patientenverfügung und Vollmacht lautete. Unvermittelt hob er den Blick in Richtung eines Besuchers, der auf einem Stuhl neben seinem Bett saß. Dessen Anwesenheit hatte Julia zwar sofort gespürt, ihn aber so lange nicht direkt sehen können, wie Stephans Blick auf dem Papier klebte. Julia erkannte ihn nun als Stephans Bruder Ralph. Er war Stephan wie aus dem Gesicht geschnitten, obwohl er etwas jünger wirkte. Ralph trug einen schwarzen Blazer, ein hellblaues Hemd mit dunkelblauer Krawatte, Bluejeans und Halbschuhe.
Stephan sagte: „Danke dir Bruderherz! Es ist genau das, was ich wollte! Wenn ich mal wieder wegtreten sollte, dann möchte ich, dass du meinen Willen vollziehst!“
Mit gerunzelter Stirn sah Ralph Stephan an. „Ich hoffe, du hast dir das genau überlegt. Ich soll also tatsächlich durchsetzen, dass die Ärzte keinerlei lebenserhaltende Maßnahmen durchführen? Irgendwie schmeckt mir das gar nicht.“
Stephan warf seinem Bruder einen verlegenen Blick zu. „Das ist mir schon klar und ich bitte dich, es zu akzeptieren, wenn du es vielleicht auch nicht verstehen kannst. Es wäre aber viel schlimmer für mich, wenn mein unsterblicher Geist an einen irreparabel geschädigten Körper gebunden wäre. Es ist auch gar nicht nötig, dass man mit allen Mitteln an seinem irdischen Leben festhält. Wenn die Zeit gekommen ist, dann ist sie gekommen und man geht hinüber. Mein Erlebnis hat meine Einstellung zum Tod total verändert. Ralph, du musst mir glauben; der Tod ist nicht das Ende, sondern ein Anfang. Ich wünschte, ich könnte dir nur ansatzweise beschreiben, wie schön es auf der anderen Seite war. Ich habe es erlebt und werde es nie mehr vergessen. Man hat mich zurückgeschickt, weil ich hier noch eine Aufgabe zu erledigen habe. Diese Zurückweisung war für mich das Schlimmste überhaupt. Ich weiß zwar noch nicht, was ich hier zu erledigen habe, aber es wird sich schon irgendwie alles ergeben!“
Nachdenklich kratzte sich Ralph am Kopf. „Nun ja, was du mir da alles von diesem Lichtwesen erzählt hast, da möchte ich dir da auch gar nicht widersprechen … aber ich glaube trotzdem, dass sich das alles nur in deinem Gehirn abgespielt hat. Dass du wegen dieses Erlebnisses jetzt alles in der Kanzlei hinschmeißt und mir das Ruder übergibst, geht nicht in meinen Kopf rein!“
Stephan die schlug die vorderen Seiten des Papiers am Klemmbrett nach hinten und zog den an der Klemme befestigten Kugelschreiber heraus. Dann sagte er: „Dieser Job hat für mich jeglichen Sinn verloren, genauso wie meine Ehe mit Birgit. Mögen sich die Anderen darüber die Mäuler zerreisen … es ist mir egal. Dass du meine Entscheidung nicht nachvollziehen kannst, kann ich verstehen. Was die Kanzlei betrifft, bin ich mir sicher, dass du das schaffst. Wenn ich entlassen werde, dann erledigen wir den ganzen Papierkram und ich überschreibe dir alles. Die Ablöse dafür ist dir auch nicht zu hoch?“
Ralph schüttelte den Kopf. „Nein natürlich nicht! Das ist mehr als fair. Hauptsache ist, dass du mit dem bisschen Geld auch klarkommst. Du wirst dich ganz schön einschränken müssen. Vergiss nicht, dass du auch noch den Unterhalt für Clara zahlen musst.“
Stephan kritzelte seine kaum leserliche Unterschrift auf das Papier und reichte das Klemmbrett seinem Bruder. „2.500 Euro monatlich auf zwei Jahre gezahlt sind mehr als genug für einen Neustart. Geld ist nicht alles, Bruderherz! Wenn man tot ist und auf die andere Seite wechselt, dann es das Unwichtigste überhaupt. Dann stellt sich nämlich die Frage: Was hast du geleistet, was Bestand hat? Wie vielen Menschen hast du in diesem Leben wirklich geholfen. Ich meine damit nicht all die erfolgreich durchgezogenen Gerichtsverfahren. Ich meine die wirklich wichtigen Dinge, die unser Leben bereichern, und dir und anderen Menschen tief greifende Erfahrungen zu schenken … Erfahrungen von Liebe und Glück!“
Ralph runzelte die Stirn: „Ich weiß ja nicht, was da während deines Zusammenbruchs wirklich passiert ist, aber dieses Erlebnis hat dich irgendwie total verändert. Ich kann das alles zwar nicht begreifen, aber ich wünsche dir, dass du das findest, wonach du suchst, was auch immer es sein mag!“
Stephans Mundwinkel zuckten und ein Lächeln stand auf seinem Gesicht. „Danke Bruderherz. Bei dir weiß ich wenigstens, dass du es ehrlich meinst!“
Wieder wurde Julia durch ein grelles Blitzlicht geblendet.
Langsam schälte sich aus dem blendenden Weiß wieder ein Bild heraus. Stephan stand vor einem Waschbecken, blickte in den darüber angebrachten Spiegel und rasierte sich mit einem elektrischen Rasierapparat. Julia sah sein Spiegelbild und erschrak. Stephan wirkte ausgezehrt. Seine Wangen waren eingefallen und seine Augen standen tief in den Höhlen. Auch hatte er erheblich an Gewicht verloren. Offenbar befand er sich noch immer im Krankenhaus.
Sie vernahm seine Gedanken: Heute wirst du entlassen und die Welt wartet auf dich! Es ist ein Weg, den du allein gehen musst! Wo auch immer er hinführt, er endet dort, wo du hergekommen bist! Im Licht der Liebe!
Angesichts seines mitleiderregenden Aussehens war diese Zuversicht einfach nur erstaunlich und dies berührte Julia so sehr, dass ihr vor Rührung die Tränen gekommen wären, wenn sie Herrin ihres Körpers gewesen wäre.
Abrupt hielt Stephan mit dem Rasieren inne, legte den Rasierapparat zur Seite und starrte entgeistert auf sein Spiegelbild.
Was hat er nur?, dachte Julia.
Nun bemerkte sie es selbst. Seine Züge wirkten mit einem Male merkwürdig verklärt und wurde von den undeutlichen Konturen eines zweiten Gesichts überlagert.
Geradezu synchron dachten Stephan und Julia sogleich: Was ist das?
Langsam, sehr langsam, wurde das andere Gesicht deutlicher. Im gleichen Maße, wie dies geschah, wurden auch Stephans Gesichtszüge schwächer.
Deutlich konnte Julia Stephans Verwirrung spüren und sie musste es ihm nicht einmal nachfühlen, denn sie war ebenso verwirrt.
Was geht da vor?
Noch war das fremde Gesicht nicht deutlich genug zu erkennen und es wirkte eher noch wie eine Symbiose aus zwei Gesichtern. Ab und an setzte ein Flackern ein, durch das Stephans Gesicht im Spiegel wieder dominierte. Diese merkwürdige Interferenz dauerte aber nicht länger als einen Sekundenbruchteil und jedes Mal danach war das fremde Gesicht noch um einiges deutlicher sichtbar. Nun schien es auch, als würden dieser rätselhaften Gestalt lange Haare wachsen und endlich erkannte Julia, dass es sich um das Gesicht einer Frau handeln musste. Irgendwie kamen ihr die Augen dieser Frau im Spiegel bekannt vor.
Nein, das konnte einfach nicht sein!
Nun hatten sie es beide deutlich vor Augen. Vor Schreck hob Stephan seine Hände zum Gesicht und betastete es ungläubig. Die Frau im Spiegel, die just im selben Augenblick die Hände hob und ihm mit weit aufgerissenen Augen entgegenstarrte, war Julia.
Irritiert drehte sich Stephan vom Spiegel weg und schaute an seinem Körper hinab. Abwechselnd bewegte er die Beine und stieß erleichtert Luft aus, als er feststellte, dass sein Körper noch der Alte war. Als er sich wieder dem Spiegel zuwandte, war Julias Gesicht verschwunden. Er stutzte, starrte auf sein Spiegelbild und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Julia, von dem Phänomen der Metamorphose noch immer völlig gebannt, vernahm nun einen Gedanken, der keinen Zweifel zuließ, dass sie in sein Bewusstsein gerückt war.
Wo immer du auch sein magst, ich werde dich finden!, dachte Stephan und ein vielsagendes Lächeln huschte über sein Gesicht!
Jäh löste sich die Vision in einer skurrilen Verzerrung auf. Die Verzerrung war ein Wirbel, der alle Farben und Formen verwischte und gefräßig in sich hineinzog. Schneller und schneller drehte er sich und bildete schließlich einen Tunnel an dessem Ende ein schwarzes Loch stand. Ohne dass sie darauf irgendeinen Einfluss hatte, wurde Julia von dem merkwürdigen Gebilde aufgesogen. Mit wahnwitziger Geschwindigkeit bewegte sie sich nun auf das schwarze Loch zu. Ehe sie jedoch überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte sie die furchterregende Schwärze verschluckt.
Die Rückkehr der Bewusstheit
Am Anfang war da nichts. Nur Dunkelheit und völlige Stille. Sie nahm wahr, dass ihr Bewusstsein noch da war; dass sie noch da war. War es ein Traum? Da sie diesen Gedanken hegte und sich darüber bewusst wurde, konnte sie nicht tot sein. Wer war sie und wo war sie? Da war ein Körper, ihr Körper. Sie konzentrierte sich auf eine Bewegung und fühlte, dass da eine Hand war, ihre Hand, die auf diesen Befehl reagierte und dadurch einen Finger krümmte. Zeigefinger?! Ja, sie steckte in einem Körper, den sie mit ihren Gedanken steuern konnte. Es war ein Körper, der ihr merkwürdig bekannt vorkam aber doch nicht der ihre war. Erinnerung? An was? Wer war sie und wo war sie? Plötzlich sagte eine Stimme in ihrem Kopf:
“Du bist wach! Das ist gut!”
Von der Anwesenheit dieser plötzlichen Präsenz erschrocken stieß sie einen spitzen Schrei aus, der von dem Nichts der Schwärze sofort verschluckt wurde. Es war, als hätte er nie ihre Kehle verlassen.
“Fürchte dich nicht!”, sagte die Stimme.
Sie drehte ihren Kopf und lauschte. Beobachtete man sie? Wieso konnte sie nichts sehen?
Stille.
Sinnierend, ob die Stimme noch da war oder sie sich alles nur eingebildet hatte, sagte sie: “Na du hast gut reden! Erschreckst mich zu Tode und sagst dann, ich soll mich nicht fürchten! Sehr witzig! Wer bist du überhaupt?”
“Ich bin du!”
“Was?! Du bist ich?! Das ist doch völliger Unsinn!”, erwiderte sie barsch.
“Nein, das ist es nicht!”, sagte die Stimme.
“Nun, wenn du ich bist und das nicht völliger Blödsinn ist, dann kannst du mir doch sicher sagen, wo ich hier bin!?”
“Du bist am Anfang!”, erwiderte die Stimme.
“Was heißt das?”
“Das wirst du gleich sehen! Es wurde beschlossen, dir die Bewusstheit zurückzugeben. Es ist wichtig, dass du den Anfang erlebst. Dann wirst du alles verstehen!”
Ob dieser Antwort noch mehr verwirrt, als sie es ohnehin schon war, sagte sie frustriert: “Hör doch mal mit dem kryptischen Scheiß auf und erklär mir endlich wer ich bin und was das hier soll!”
Doch die Stimme antwortete nicht mehr. Stille. Schwärze.
Unvermittelt kam ein helles Licht über sie das mit einem Rauschen verbunden war, was wie eine Meeresbrandung klang. Dann, als sich ihr Sehen schärfte und das Rauschen verklang, stand sie plötzlich vor einem gewaltigen Gebäude, dessen Schatten auf sie fiel. Gebannt hob sie langsam den Kopf und erblickte eine hohe Fassade aus weißem Marmor, die ganz oben mit einer weiten Kuppel gekrönt war, welche aus purem Gold bestand. In ihr spiegelte sich die Sonne und der strahlend blaue Himmel. Der Anblick war atemberaubend. Plötzlich wusste sie wer sie war und wo sie war. Sie war zurück in der Heimat, ihrer Heimat. Alle Erinnerungen kamen zurück und sie war sich dessen bewusst. Nun wusste sie auch, warum sie hier war.
Sie wartete am Ende des Wandelgangs, hoch oben auf dem Plateau der breiten Pyramidentreppe vor der hohen, goldenen Pforte, die das Innere der riesigen Gerechtigkeitshalle von den weiten Außenanlagen trennte. Sie betrachtete ihr Spiegelbild, das vom polierten Metall der hohen Tür reflektiert wurde. Ihr war bewusst, dass es nur die Illusion einer Reflexion war, da jeder Stein, jeder Baum, jeder Halm und jedes noch so kleine Ding in der Heimat aus purer Energie bestand und sich somit Farben, Formen und Dichtigkeiten jederzeit wandeln konnten. Sie selbst hatte sich für den feierlichen Anlass ein knielanges, indigoblaues Kleid aus hauchdünner Seide kreiert, dass ihre grazile, schlanke Figur gut zur Geltung brachte, ihre festen Brüste in leicht durchscheinenden Andeutungen offenbarte und perfekt zu ihren gleichfarbigen, leuchtenden Augen passte. Ihr hüftlanges, hellblondes Haar trug sie im klassischen Stile hochgesteckt, mit einem einfrisierten goldenen Diadem, das von zahlreichen Lapislazuli geziert wurde. Alles in allem war sie mit ihrem Aussehen sehr zufrieden, bis auf ihre Nase, die ihr in diesem Augenblick einmal wieder ein wenig zu stupsig erschien.
Nicht mehr lange, und sie wäre an der Reihe und würde die Gelegenheit haben, ihren Plan vor dem Hohen Rat zu verteidigen. Sie hatte ihren Entschluss gefasst, die nächste Reise anzutreten und keiner konnte sie mehr umstimmen. Zweifellos, ihre Heimat war so wunderschön und erfüllte sie unablässig mit dieser Allglückseligkeit, die man mit Worten nicht beschreiben konnte; dennoch war ihre Entscheidung endgültig. Es würde ihr schwerfallen, von hier fortzugehen, denn dieser Ort war unvergleichlich und vollkommen. Sein denkwürdigstes und schönstes Kennzeichen waren seine endlosen, sich weithin erstreckenden prachtvollen Gärten, die sie so sehr liebte. Sie waren zwischen den langen Wandelgängen angelegt, die die gewaltigen Gebäudekomplexe der Gerechtigkeitshalle, der Weisheitshalle und der Archivhalle miteinander verbanden. Soweit das Auge reichte, entfaltete sich dort in jeder Himmelsrichtung eine anmutige Fülle aus leuchtenden Blumen, plätschernden Bächen und rauschenden Wasserfällen, hohen Bäumen mit breiten Kronen, Moosteppichen und Farnen zwischen gepflasterten Wegen und hölzernen Brücken, ausgedehnten Wiesen und steinernen Obelisken, hinter denen sich die lichtumfluteten Kuppeln der majestätischen Triade hervortaten.
Noch heute morgen war sie in den Parks spazieren gegangen, hatte sich auf einer der kühlen, weißen Marmorbänke vor einem der schönen Springbrunnen mit den goldenen Wasserspeiern von Meerjungfrauen niedergelassen und den Augenblick in sich eingesogen. Vielleicht würde sie sich auf ihrer Reise an die Pracht und Lieblichkeit ihrer Heimat erinnern, vielleicht auch nicht. Sie hoffte jedenfalls, dass ihr ein Fünkchen Erinnerung blieb. Dieser Ort, der ihre Heimat war und es auch immer bleiben würde, war ein jedes Mal der Ausgangspunkt und das Ziel ihrer Reisen gewesen, von denen sie bereits die notwendige Anzahl hinter sich gebracht hatte, um den höchsten Grad der Weisheit zu erlangen. Sie müsste also gar nicht mehr fort von hier. Niemand könnte sie wegschicken, niemand ihr diesbezüglich Weisung erteilen. Die Gestandenen ihres neunten Hauses, die denselben hohen Grad wie sie innehatten, hatten mit Erstaunen reagiert, als sie ihnen von ihrer Absicht berichtete, dass sie nun eine weitere Reise unternehmen wollte. Wie kann man nur die Heimat verlassen und sich Unbewusstheit und Körperlichkeit freiwillig antun?
Vermutlich würden sie es nie verstehen, aber das rührte sie nicht. Es kam nur darauf an, dass der Hohe Rat ihren Entschluss und einen ihrer Reisepläne billigte. Vor sechs Mondzyklen hatte sie ihrer Seelenpartnerin ihre Absichten offenbart. Auch sie stammte aus dem neunten Haus. Sie kannten sich schon sehr lange, wenn man die Dauer dieser Bekanntschaft überhaupt in Zeiteinheiten messen konnte, denn so etwas wie Zeit existierte hier nicht. Sie ähnelten sich wie ein Ei dem Anderen und das nicht nur äußerlich sondern auch in ihren Neigungen und bei ihren Interessen. Nun, nach einer halben Ewigkeit gemeinsamer Zyklen würden sie für eine Weile durch die Existenz in unterschiedlichen Dimensionen getrennt sein. Nicht vollständig, denn ihre Seelenpartnerin würde ihr während eines Abschnittes ihrer Reise beistehen, die Verbindung zu ihr halten, ihr helfen und sie beraten. So war es vorgesehen. Ihre treue Freundin hatte ihre Entscheidung respektiert und sich auf ihre Bitte bereit erklärt, ihre Geistführerin zu sein. Jedoch mussten die geistigen Berater wechseln, weil auch die Lebensabschnitte mit ihren unterschiedlichen Anforderungen wechselten. Und so kam es, dass sie sich noch acht weitere geistige Berater erwählte, die alle aus ihrem Hause stammten.
Danach hatte sie sich für das Aufstellen ihres Reiseplanes neun Orientierungshelfer ausgesucht, wobei ein jeder dieser Helfer aus einem anderen Haus stammte, so dass in ihrer Planungsgruppe alle Häuser vertreten waren. So gab es das erste Haus der Anführer, das zweite Haus der Vermittler, das dritte Haus der Sprecher, das vierte Haus der Lehrer, das fünfte Haus der Abenteurer, das sechste Haus der Ernährer, das siebte Haus der Glaubenssucher, das achte Haus der Organisatoren und schließlich ihr eigenes: das neunte Haus der Menschenfreunde. Alle Orientierungshelfer waren Experten auf ihrem Gebiet und hatten bereits zahlreiche Reisen in die niederen Dimensionen hinter sich gebracht. In schier endlosen Zyklen diskutierten sie in einem kleinen Saal in der Gerechtigkeitshalle, umgeben von weißen Marmortischen und –bänken, unter Zuhilfename der verschiedensten visuellen Hilfsmittel, von Karten und zahllosen Büchern über den einen oder anderen Aspekt der jeweiligen Eigenschaft und Begabung, der in den Reiseplan aufzunehmen wäre. Jede Einzelheit war abzuwägen. Auf das Hauptthema ihrer Reise hatte sie sich schnell festgelegt. Da gab es für sie gar auch keinen Zweifel, war es doch der eigentliche Grund, warum sie die Reise in die niederen Dimensionen antreten wollte. Sie wollte die anspruchsvolle Schule des Lebens durchlaufen und dabei anderen Reisenden helfen, ihre eigenen Lebensprüfungen zu bestehen. So wurden für ihre Lebensreise auch die Täter und die Opfer ausgesucht, was nur durch Sichtung von unzähligen Bereitschaftserklärungen anderer Seelen erfolgen konnte, um diejenigen zu finden, die dem jeweiligen Zweck eines Lernprozesses am besten dienen konnten. Ihr war bewusst, dass die Freiwilligen, die sich als Täter zur Verfügung stellten, damit große Opfer brachten. Sie würden grausam sein, ihr physischen und psychischen Schmerz zufügen und sich damit selbst belasten. Sie würde durch die Grausamkeiten der Anderen mit der ganzen Härte des Lebens konfrontiert werden. Jedoch musste sie diese Unannehmlichkeiten, Gemeinheiten und Tragödien erleben, damit sie aus diesen Situationen lernen und durch die Art ihrer Bewältigung gestärkt aus ihnen hervor gehen könnte. All diese Erlebnisse würden ihr kostbare Erkenntnisse einbringen, die sie während ihres Daseins in der Heimat niemals gewinnen konnte. Natürlich würde es auch angenehme Abschnitte geben und ihr würden andere Reisende beistehen und ihr helfen, dieses harte Trainingslager des Lebens zu überstehen. Auch sie würde in mancher Hinsicht Täterin sein müssen, denn auch andere Reisende sollten durch ihre Handlungen lernen können. All das wurde vom Orientierungsteam abgewogen und diskutiert. Ihr Reiseplan musste überdies mit den Reiseplänen der Täter- und Opferseelen synchronisiert werden. Alle Lebensbegegnungen wurden akribisch genau geplant. Als es daran ging, die schwersten Schicksalsschläge zu bestimmen, traf sie auf den Widerstand ihrer Berater, denn in deren Augen schickte sie sich an, sich in einzelnen Etappen ihrer körperlichen Existenz zu viele Schwierigkeiten aufzubürden. So stritt sie mit ihnen auf ihre unvergleichlich galante Art und warf ihre Erfahrungen aus ihren früheren Reisen in die Waagschale. Zum Schluss gab es zwei Varianten ihres Reiseplanes. Als sie schließlich den blauen Kristallspeicher in den Händen hielt, der die kompletten Pläne enthielt, war sie erleichtert und stolz zugleich.
Das plötzliche Ächzen des schweren Metalls der hohen Pforte riss sie aus ihren Gedanken, als sich die Torflügel öffneten. Sogleich drang eine laute Aufforderung in ihr Bewusstsein. Es war der Herold des Hohen Rates, dessen Aufruf ihren Geist erreichte: Tritt ein, der Hohe Rat erwartet dich!
Der Aufforderung folgend, schritt sie zügig durch den hohen Eingang und vernahm, wie sich das goldene Tor mit einem lauten, metallischen Donnern hinter ihr schloss.
Vor sich erblickte sie die hoch aufragende Statue der Muttergottheit Azna, welche aus purem Gold bestand. Die Bekleidung der Göttin war als Chiton ausgeführt, das an den Schultern und um die Knöchel als reich gefältelter dünner Stoff erschien, der so eng an ihrem Körper lag, dass ihre anmutigen Hüften und ihre vollen Brüste sich unter dem gerafften Stoff deutlich abzeichneten. In der Hand des nach oben angewinkelten rechten Arms hielt sie das Heft eines kunstvoll geschmiedeten Schwertes, dessen lange, nach links unten geneigte Klinge sie mit der Hand ihres abgewinkelten linken Arms vorsichtig umschloss. Lange, wallende Haare umschmeichelten ihr lächelndes Gesicht. Ihre Augen bestanden aus weißem Perlmutt, die darauf angebrachten Iriden aus grünen Smaragden, in deren Mitte Onyxe als Pupillen eingearbeitet waren. Die Göttin blickte sie mit solch durchdringender Intensität an, dass es ihr gerade so schien, als würde sie in ihr Innerstes schauen können. Sie passierte die riesige Skulptur, wobei es ihr klein wenig so vorkam, als würden deren Augen ihr folgen. Im Rücken der Statue tat sich die gewaltige Rotunde auf, über der eine riesige Kuppel thronte, durch deren weite Lichtöffnung das goldene Licht des Tages einfiel. Sie betrachtete die mächtigen weißen Marmorsäulen, die das eherne, gigantische Bauwerk in seinem Inneren stützten und betrat das Herzstück der Halle, eine gewaltige, geradezu heilig anrührende Arena. Auf den umlaufenden Rängen, die mit stuckverzierten, steinernen Brüstungen abgegrenzt waren und sich in vielen Stockwerken über ihr erhoben, hatten sich zahlreiche Besucher eingefunden, um ihrer ehrwürdigen Bekundung beizuwohnen. Sie schritt auf einen schimmernden, u-förmigen Tisch zu, der aus edlem, weißen Marmor bestand.
An ihm saßen die Mitglieder des Hohen Rates auf großen Stühlen, die wegen ihrer prächtigen Schnitzereien und breiten Lehnen fast wie Throne wirkten. Hinter ihnen standen drei Dutzend goldbeflügelte Fürstentümer, deren erhabene Gesichter völlig regungslose Mienen zeigten.
Die Magister und Magisterinnen lächelten ihr aufmunternd zu, als sie sich vor ihnen platzierte. Aus reifen, aber völlig faltenlosen Gesichtern blickten sie achtzehn Augenpaare freundlich an. Die Frauen hatten lange, glatte, silberweiße Haare, die ihre unvergleichliche Anmut und Schönheit unterstrichen. Die Männer trugen ihr weißes Haar schulterlang und ihre silberweißen, langen Vollbärte erschienen wie Rangabzeichen ihrer Würde und Weisheit. Alle Ratsmitglieder waren in fließende, bodenlange, weise Gewänder gekleidet, welche von goldenen Rändern gesäumt wurden. Obwohl sie hinsichtlich der Kleidung und der Frisuren uniform wirkten, lagen in ihren Gesichtern sehr unterschiedliche Züge. Wie sie wusste, waren im Rat alle neun Häuser vertreten. Dies konnte sie auch daran erkennen, dass auf den hohen Rückenlehnen, die über ihre Köpfe hinausragten, die Zahlen der Häuser eingeschnitzt waren. An den äußeren Enden des u-förmigen Tisches saßen sich die zwei Ratsmitglieder aus dem ersten Haus gegenüber. Jeweils neben ihnen saßen die des Zweiten, dann die des Dritten und so weiter. So setzte sich die Sitzordnung bis zur Mitte des Tisches fort, wo schließlich der Magister und die Magisterin aus dem neunten Haus nebeneinander saßen.
Der neunte Magister schaute sie mit seinen warmen braunen Augen an und seine Stimme klang feierlich, als er sagte: „Kind Gottes, sag, was ist dein Begehr?“
Normalerweise war es nicht üblich, zu sprechen, denn man kommunizierte telepathisch, doch in Vorbereitung auf die Körperlichkeit gehörte es zur Zeremonie, dass man die astralen Stimmbänder benutzte.
Noch etwas unsicher, aber doch mit fester Stimme begann sie zu sprechen: „Hoher Rat, ich ersuche um die Genehmigung, in die körperliche Zelle zu transformieren und meine dreiundneunzigste Lebensreise anzutreten. Hier ist mein Reiseplan!“
Sie hob den rechten Arm und öffnete die Hand auf der der blaue Kristall lag. Der Magister nickte. Sogleich verschwand der Stein auf ihrer Hand und erschien einen Wimpernschlag später auf seiner. Er nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt ihn prüfend vor die Augen und steckte ihn in eine Aussparung auf der Spitze einer goldenen Pyramide, die über einem marmornen Podest schwebte, das unmittelbar vor dem Tisch des Rates stand.
Der Visualisierer, dachte sie.
In die Seitenflächen der sich langsam drehenden Pyramide waren verschiedene Zeichen eingraviert. Sie erfasste einen stilisierten Baum, einen Sonnenkopf, einen Vollmond, der durch einen zunehmenden und einen abnehmenden Mond flankiert wurde, ein Pentagramm, ein Hexagramm, ein Auge, das über einem Dreieck stand und noch viele andere Insignien. Zwischen ihnen waren die verschiedensten Edelsteine eingelassen. Sie erkannte Obsidiane, Amethyste, Rubine, Tigeraugen, Türkise, Karneole, Citrine und Aventurine.
Jäh begann der Kristall zu leuchten. Ein gleißendes, helles Licht überflutete die Arena. Einen kurzen Moment war sie geblendet. Dann jedoch begann das Leuchten zu pulsieren und der Kristall warf Strahlen in den Raum, die holografische Visionen erzeugten. Gebannt starrten die Ratsmitglieder in die Flut der projizierten Bilder, welche mit so schneller Folge wechselten, dass die unzähligen Tages- und Nachtszenen der wiedergegebenen Lebensepisoden in ihren Augen ein permanentes Flackern widerspiegelten. Es dauerte nicht lange, da erlosch der Kristall wieder. Die Blicke der Ratsmitglieder richteten sich erneut auf sie und sie spürte, dass sie eindringlich gemustert wurde. Während auf einigen Gesichtern ungläubiges Staunen lag, zeigten andere ein verständnisvolles Lächeln.
Die Magisterin aus dem ersten Haus warf ihr einen vieldeutigen Blick zu und ergriff als Erste das Wort: „Sag, weshalb willst du dich freiwillig in die Begrenztheit der menschlichen Zelle transformieren lassen? Du musst das nicht tun, denn du hast bereits den höchsten Grad!“
Sie hatte schon geahnt, dass diese Frage gestellt würde und so hatte sie sich bereits eine Antwort zurechtgelegt. „Vielleicht wirst du es nicht verstehen, aber ich möchte wieder einmal das Gefühl erleben, mit echten Füßen über eine Wiese zu laufen. Ich sehne mich nach einer direkten Verbindung zu Gaia, einer Empfindung die ich auf meinen früheren Reisen so sehr genossen habe. Und …“, sie hielt kurz inne, „ … dann ist da noch das unbändige Verlangen nach körperlichen Umarmungen.“
Die Magisterin zog eine Augenbraue hoch. „Körperliche Umarmungen? Aber sind es nicht die energetischen Verschmelzungen, die dir in jeder Hinsicht Erfüllung bringen? Du hast doch bestimmt einen Seelenpartner, mit dem du dich schon einmal vereinigt hast?“
„Oh ja, die Verschmelzungen mit meiner Seelenpartnerin waren immer wundervoll und unvergleichlich, aber mit einem richtigen Körper einen anderen Menschen zu spüren, das ist doch etwas ganz anderes. Eine körperliche Umarmung war für mich immer ein fantastischer Moment. In ihm vereinigen sich die Freude, wenn man sich begrüßt, der Schmerz, wenn man sich trennt und die Liebe, wenn man sich begehrt.“
Der Magister aus dem siebten Haus nickte bestätigend. „Weise gesprochen! Das kann ich sehr gut nachvollziehen! Von mir aus sei es dir gewährt, in den von dir erwählten Körper zu gehen. Erklär mir aber, warum hast du uns zwei Lebenspläne vorgelegt?“
Sie stieß einen leisen Seufzer aus. „Nun, ich hätte es gerne vermieden, euch zwei Pläne vorzulegen, aber meine Berater meinten, dass mein erster Plan nicht umsetzbar sei. Er bürge die Gefahr in sich, dass ich in den niederen Dimensionen Schaden nehmen könnte, weil mein Körper die Prüfungen, die ich mir selbst stellen will, nicht überstehen würde. Daher ward ein zweiter Plan aufgestellt, den ich allerdings nicht bevorzuge.“
Die Magisterin aus dem sechsten Haus ergriff das Wort. „Mir scheint, als wären beide Pläne eine Spur zu ehrgeizig. Der Erste ist ganz und gar nicht akzeptabel. Dein Körper wird an den Entbehrungen, die du dir darin auferlegen möchtest, zerbrechen, mögen sie auch zu tiefgreifenden Erfahrungen führen. Es nützt dir nichts, wenn dein Geist in den niederen Dimensionen hängenbleibt, weil du deinen Körper wegen der selbst auferlegten Pein vorzeitig zerstören wirst. Dir ist doch bewusst, was passiert, wenn du dich selbst richten würdest?“
Als sie die Worte der Magisterin vernahm, legte sie die Stirn in Falten. „Nun ja, das schon, hohe Magisterin! Aber ich würde doch niemals Hand an meinen selbst erwählten Körper legen! Nicht jedenfalls so, dass ich ihm damit sämtliche Lebensenergie entziehe. Ich denke, der Plan ist trotz all der schwierig erscheinenden Lebensprüfungen durchführbar! Mein Lohn wären unvergleichliche Erfahrungen!“
Die Magisterin schüttelte den Kopf. „Deine Absichten mögen ehrenhaft sein, aber wenn du erst einmal das Tor der Unbewusstheit passiert hast, wirst du dich an deine Worte nicht mehr erinnern können!“
Nun ergriff der Magister aus dem dritten Haus das Wort. „Hohe Schwester, ich kann deine Bedenken durchaus verstehen, aber entspricht es nicht dem ewigen Gesetz allen Seins, dass sich ein Jeder sein Schicksal selbst wählen kann?“
Während auf diese Worte einige Ratsmitglieder zustimmend nickten, schüttelten andere stirnrunzelnd die Köpfe. Jeder schien nun etwas sagen zu wollen.
Die Magisterin aus dem achten Haus rief: „Das Seelenheil eines Reisenden steht über seiner Freiheit, sich sein Schicksal selbst auszuwählen!“
Der Magister aus dem vierten Haus erwiderte kopfschüttelnd: „Zum Seelenheil gehören zweifellos die Einsichten, welche während einer Lebensreise gewonnen werden und es ist uns grundsätzlich entzogen, die Kinder Gottes von solchen Erfahrungen fernzuhalten!“
Als sich nun ein Raunen unter den Besuchern auf den Rängen erhob, stand der Magister des neunten Hauses auf und hob beschwichtigend die Hände. „Brüder, Schwestern, so kommen wir nicht weiter. Ich schlage vor, dass wir uns eine Weile in die Archivhalle zurückziehen, um dort nach vergleichbaren Fällen zu suchen und unter Betrachtung dieser Recherchen, über die vorgelegten Lebenspläne zu beraten.“
Mit einem einhelligen Nicken bekundeten die Ratsmitglieder ihre Zustimmung.
Mit einem freundlichen Lächeln wandte er sich nun zu ihr um: „Wir werden dich rufen lassen, wenn wir zu einer Entscheidung gekommen sind.“
***
Die Dämmerung war angebrochen und die Sonne gab dem hohen Berghorizont hinter der Schattensilhouette der mächtigen Kuppeltriade ein purpurnes Rendezvous, als sie den vereinbarten Treffpunkt im Park neben dem Springbrunnen der Meerjungfrauen erreichte.
Ihre Seelenpartnerin wartete bereits und winkte ihr, da sie wusste, dass der Hohe Rat eine Entscheidung getroffen hatte, aufgeregt zu. Ein Schwall von Worten drang in ihr Bewusstsein. Da bist du ja endlich! Das hat aber gedauert! Wie war es? Wann geht es los?
Sie lächelte vieldeutig und hob ihre flachen Hände vor die Brust. Ihre liebe Freundin verstand sofort, und legte ihre Hände an. Umgehend verloren ihre astralen Leiber den Schein von Körperlichkeit, wurden durchsichtig und leuchteten wie Nebelschleier im Mondlicht. Die eben noch präsenten Konturen ihrer Körperformen transformierten zu zwei strahlenden Lichtbällen aus purer Energie, die miteinander verschmolzen und Eins wurden. Eine Weile fühlten sie sich zeitlos treibend als untrennbareres Ganzes, in welchem ihre verbundenen Seelen vor lauter Glückseligkeit frenetisch tanzten. Nur wenige Augenblicke, und die gleißende Kugel teilte sich wieder in zwei Lichtbälle, die zusehends die alten Konturen annahmen, in welche sofort die Farben und Formen ihrer astralen Körperlichkeit zurückkehrten. Als wäre nichts geschehen, standen sie sich wieder gegenüber und schauten sich mit leuchtenden Augen an.
Ihrer Seelenpartnerin stand die Überraschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Grundgütiger, sie stellen dir tatsächlich jemanden zur Seite, der dir hilft, deine schweren Schicksalsprüfungen zu bestehen?
Gleichwohl es mehr eine Feststellung als eine Frage war, antwortete sie: Ja! Er wird mir beistehen und mich von meiner Unbewusstheit befreien. Sein Plan wurde an meinen angepasst. Das ist eine akzeptable Konstellation. Die Hauptsache ist doch, dass mein erster Plan bestätigt wurde.
Naja, ein paar Änderungen haben sie ja doch vorgenommen!, erwiderte ihre Freundin.
Nun gut, damit bin ich einverstanden, denn der Plan bleibt sehr anspruchsvoll und ich werde auf der Reise viele neue tiefgreifende Erkenntnisse gewinnen.
Ihre Seelenpartnerin warf ihr einen gedankenvollen Blick zu. Was ich da während unserer Vereinigung gesehen habe, war sehr ergreifend und teilweise sogar erschreckend? Willst du das wirklich?
Fast unmerklich zuckte sie mit den Schultern, dann erwiderte sie: Wie heißt es in einer alten Weisheit so schön: Die süßesten Früchte hängen ganz oben am Baum!
***
Die Türme waren zwei riesige, monolithisch wirkende Bauwerke, deren Pracht manche Bewohner der Heimat gar über die Vollkommenheit der Hallen der Triade stellten. Die massiven Fassaden der Türme bestanden aus blauem Glas, über welche unaufhörlich Wasser rieselte. Es legte einen so feinen Sprühnebel über dem angrenzenden Jasminwald ab, dass die starke Lichtbrechung einen leuchtenden Regenbogen schuf, der dem Besucher beständig den Weg zu den ehernen Toren wies.
Das Bild dieses ekstatischen Lichtspiels noch vor Augen, lag sie nun in einer gläsernen Transformationsröhre in einem der Abreiseräume im Inneren der Türme. Als sie der zurückliegenden Momente gedachte, fühlte sie einen gewissen Zwiespalt. Dieses Gefühl, es war eine merkwürdige Mischung aus Zuversicht und Wehmut. Ihr Abschied von ihren lieben Freunden schnitt tiefer als ein Messer. Ihre letzte Vereinigung mit ihrer Seelenfreundin war so wundervoll und voller Glückseligkeit, was es ihr nur noch schwerer gemacht hatte, sich von ihr zu trennen. Auch die Gewissheit, dass sie sich wiedersehen würden, hatte sie dabei kaum trösten können. Gleichwohl ihr bewusst war, dass ihre Reise, gemessen an der Ewigkeit, nur ein kurzer Ausflug in die niederen Dimensionen war, fiel das Loslassen ihrer Heimat unsagbar schwer.
Unvermittelt wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als der Takter zu pendeln begann. Wie sie wusste, synchronisierte das Ding die Energiekanäle der verschiedenen Dimensionen und schuf im richtigen Augenblick den Tunnel, der sie in die irdische Matrix brachte. Gleich würde der Abstieg in den Schoß jener Mutter beginnen, die sie sich auserwählt hatte und ihr Geist würde das Tor der Unbewusstheit durchschreiten. Während sie den Taktschlägen lauschte, liefen vor ihrem geistigen Auge noch einmal Bilder ihrer Heimat vorbei. In ihrer Erinnerung sah sie die schönen Gärten und Parks, die prachtvollen Tempel und Hallen, die belebten Straßen und Plätze, sah deren glückliche Bewohner und die Allmacht Gottes. Wie lange noch würde sie sich dieser Vollkommenheit bewusst sein? Würde sie sich während ihrer Reise überhaupt jemals daran erinnern?
Einstweilen schlug das Pendel des Takters immer weiter aus und erhöhte zusehends seine Geschwindigkeit. Schneller und schneller wurde das Ding, sein Schlagen immer lauter.
Tack. Tack. Tack. Tack. Tack. Tack. Tack. Tack.
Dann blieb es plötzlich stehen. Unvermittelt begann die gläserne Transformationsröhre zu erstrahlen. Sogleich verschwand die Umgebung der Kammer hinter dem gleißenden Licht. Zu ihren Füßen tat sich ein Tunnel auf, in dessen Inneres nun das Licht der Röhre strahlte, jedoch nicht weit genug um an sein fernes Ende zu gelangen. Dort gähnte nur ein kleines schwarzes Loch. Noch ehe sie darüber nachdenken konnte, wurde sie in den Tunnel gezogen. In rasendem Tempo bewegte sie sich auf das schwarze Loch zu. Schnell kam es näher, viel zu schnell. Je näher es kam, umso stärker schwanden ihre Sinne. Dann verschluckte es sie und mit ihrem letzten Funken Bewusstheit spürte sie, dass sie in die Enge eines kleinen Körpers fuhr. Als die wohlige Wärme in der Dunkelheit sie schließlich einlullte, war sie fortan eine Gefangene der Zeit.
Fortsetzung folgt …